Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
sich, weil sie das Frauenfleisch für eine Erfindung des Teufels hielten, bei anderen kamen in den Kirchenversammlungen Mann und Weib nackt zusammen. Gläubige Grübler, die zu dem Schluß gelangten, daß die Schlange, die im Paradies Eva verführt habe, eine göttliche Person gewesen sei, trieben Sodomie; und andere duldeten keine Jungfrauen, weil nach ihrer wissenschaftlichen Überzeugung die Gottesmutter außer Jesus noch andere Kinder geboren haben sollte, so daß Jungfräulichkeit ein gefährlicher Irrtum wäre. Immer taten die einen etwas, wovon die anderen das Gegenteil taten, und beide ungefähr aus den gleichen Gründen und Überzeugungen. –Tuzzi erzählte es mit dem Ernst, der historischen Vorkommnissen gebührt, auch wenn sie sonderbar sind, und einem Unterton von Herrenwitzen. Sie standen an der Wand; der Sektionschef warf mit einem kleinen ärgerlichen Lächeln seinen Zigarettenrest in eine Aschenschale, blickte noch immer zerstreut ins Gewühl und schloß, als hätte er genau nur so viel sagen wollen, wie die Dauer einer Zigarette es verlange, mit den Worten: »Ich finde, daß der Zustand der Meinungsverschiedenheiten und subjektiven Auffassungen, der damals geherrscht hat, nicht wenig an die Streitigkeiten unserer Literaten erinnert. Sie werden morgen verweht sein. Wenn nicht durch verschiedene geschichtliche Umstände zur rechten Zeit ein geistliches Beamtensystem mit politischer Wirksamkeit entstanden wäre, so würde heute vom christlichen Glauben kaum eine Spur übrig sein…«
Ulrich pflichtete bei. »Ordnungsmäßig von der Gemeinde bezahlte Glaubensbeamte lassen mit den Amtsvorschriften nicht spaßen. Ich meine überhaupt, daß wir gegen unsere gemeinen Eigenschaften ungerecht sind; ohne ihre Verläßlichkeit könnte niemals Geschichte entstehn, denn die geistigen Anstrengungen bleiben ewig strittig und windig.«
Der Sektionschef sah mißtrauisch auf und dann gleich wieder weg. Äußerungen dieser Art waren ihm zu ungebunden. Dennoch gab er sich zu diesem Vetter seiner Frau, obgleich er ihn erst seit kurzem kannte, auffallend freundschaftlich und verwandt. Er kam und ging und erweckte den Anschein, inmitten dessen, was sich in seinem Hause zutrug, in einer anderen, abgeschlossenen Welt zu leben, deren höhere Bedeutung er jedem Einblick entzog; zuweilen schien er aber doch nicht länger widerstehen zu können und mußte sich jemandem für einen Augenblick, wenn auch undeutlich zeigen, und es war dann jedesmal der Vetter, mit dem er ein Gespräch anknüpfte. Es war das eine menschliche Folge des Entzuges an Anerkennung, den er im Verhältnis zu seiner Gattin trotz gelegentlicher Zärtlichkeitsanfälle erdulden mußte. Diotima küßte ihn dann wie ein kleines Mädchen; ein Mädchen vielleicht von vierzehn Jahren, wenn es einen noch kleineren Knaben aus weiß Gott welcher Affektation mit Küssen bedeckt. Unwillkürlich zog sich Tuzzis Oberlippe unter dem gekräuselten Bärtchen schamvoll ein. Die neuen Verhältnisse, die in seinem Haus entstanden waren, brachten seine Frau und ihn in unmögliche Lagen. Er hatte Diotimas Klage über sein Schnarchen keineswegs vergessen, er hatte inzwischen auch Arnheims Schriften gelesen und war bereit, darüber zu sprechen; manches konnte er anerkennen, sehr vieles als unrichtig bezeichnen, und einiges verstand er nicht, mit jener sicheren Ruhe, die voraussetzt, daß das der Schaden des Autors sei: aber er war immer gewohnt gewesen, in solchen Fragen einfach das geachtete Urteil des erfahrenen Mannes abzugeben, und die jetzt vorhandene Aussicht darauf, daß ihm Diotima jedesmal widersprechen würde, die Notwendigkeit also, sich gemeinsam mit ihr auf diese weichliche Diskussion einlassen zu müssen, empfand er als eine so unrechte Veränderung seines Privatlebens, daß er sich nicht zu einer Aussprache entschließen konnte und in halbbewußten Wünschen sogar vorgezogen hätte, sich mit Arnheim zu schießen. Tuzzi zog plötzlich seine schönen, braunen Augen ärgerlich zusammen und sagte sich, daß er strenger auf seine Stimmungen achtgeben müsse. Der Vetter neben ihm (seiner Ansicht nach durchaus kein Mann, mit dem man sich zu sehr liieren durfte!) erinnerte ihn eigentlich nur durch die kaum von einem wirklichen Gehalt erfüllte Gedankenbindung der Verwandtschaftlichkeit an seine Frau; auch hatte er seit langem schon bemerkt, daß Arnheim diesen jüngeren Mann in einer gewissen, vorsichtigen Weise verwöhnte, wogegen der sich deutliche Abneigung anmerken
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