Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
Vom Netzwerk:
befänden, nichts Besseres gestatte »es ist sicher anmaßend, wenn ich vor Ihnen zu definieren versuche, was Diplomatie sei; aber ich wünsche verbessert zu werden. Ich versuche also zu sagen: Diplomatie nimmt an, daß eine verläßliche Ordnung nur durch Benützung der Lügenhaftigkeit, der Feigheit, des Kannibalismus, kurz der soliden Niedrigkeiten der Menschheit erreichbar sei; sie ist Idealismus à la baisse, um Ihren trefflichen Ausdruck noch einmal zu gebrauchen. Und ich finde, daß dies bezaubernd melancholisch ist, weil es eben voraussetzt, daß die Unzuverlässigkeit unserer höheren Kräfte uns den Weg zum Menschenfressen ebenso gangbar macht wie den zur Kritik der reinen Vernunft.«
    »Sie denken leider« verwahrte sich der Sektionschef »romantisch von der Diplomatie und verwechseln wie so viele Menschen Politik mit Intrige. Das mochte zur Not stimmen, als sie noch von fürstlichen Amateuren gemacht wurde; aber es stimmt nicht in einer Zeit, wo alles von bürgerlichen Rücksichten abhängt. Wir sind nicht melancholisch, sondern optimistisch. Wir müssen an eine gute Zukunft glauben, sonst könnten wir vor unserem Gewissen nicht bestehn, das doch keineswegs anders geartet ist als das anderer Menschen. Wenn Sie durchaus das Wort Menschenfresserei gebrauchen wollen, so kann ich nur sagen, daß es das Verdienst der Diplomatie ist, die Welt vom Menschenfressen abzuhalten; um das zu können, muß man aber an etwas Höheres glauben.«
    »Woran glauben Sie?« unterbrach ihn der Vetter ohne Umschweife.
    »Aber nun wissen Sie!« sagte Tuzzi. »Ich bin doch kein Knabe mehr, daß ich darauf so ohne weiteres antworten könnte! Ich habe nur sagen wollen, je mehr sich ein Diplomat mit den geistigen Strömungen seiner Zeit zu identifizieren weiß, desto leichter wird ihm sein Beruf fallen. Und umgekehrt hat sich in den letzten Menschenaltern gezeigt, daß man desto mehr Diplomatie braucht, je größer die Fortschritte des Geistes auf allen Seiten sind; aber das ist doch schließlich natürlich!?«
    »Natürlich?! Aber damit sagen Sie ja das gleiche wie ich!« rief Ulrich so lebhaft aus, wie es das Bild zweier sich mäßig unterhaltender Herren, das sie abgeben wollten, nur gestattete. »Ich habe mit Bedauern hervorgehoben, daß das Geistige und Gute ohne Mithilfe des Bösen und Materiellen nicht dauernd existenzfähig sei, und Sie antworten mir ungefähr, je mehr Geist vorhanden, desto mehr Vorsicht nötig. Sagen wir also: Man kann den Menschen als einen gemeinen Kerl behandeln und auf diese Weise nicht ganz zu allem bringen; man kann ihn aber auch begeistern und damit nicht ganz zu allem bringen. Zwischen beiden Methoden schwanken wir darum, beide Methoden mischen wir; das ist das Ganze. Mir scheint, daß ich mich einer viel weitergehenden Übereinstimmung mit Ihnen erfreue, als Sie zugeben wollen.«
    Sektionschef Tuzzi drehte sich dem unbequemen Frager zu; ein kleines Lächeln hob sein Bärtchen, seine glänzenden Augen blickten mit einem spöttisch nachgiebigen Ausdruck; er wünschte, diese Art von Gespräch zu beenden, sie war unsicher wie Glatteis und zwecklos kindis ch, wie das Schlittern von Knaben auf Glatteis. »Schauen Sie, Sie werden das wahrscheinlich für eine Barbarei halten,« erwiderte er »aber ich werde es Ihnen erklären: Philosophieren sollten eigentlich nur Professoren dürfen! Ich nehme unsere anerkannten großen Philosophen davon natürlich aus, die schätze ich sehr hoch und habe sie sämtlich gelesen; aber die sind sozusagen nun einmal da. Und unsere Professoren sind angestellt dafür, da ist es ein Beruf und braucht weiter nichts auf sich zu haben; schließlich braucht man auch die Lehrer, damit die Sache nicht ausstirbt. Aber sonst hat die altösterreichische Maxime, daß der Staatsbürger nicht über alles nachdenken soll, schon recht gehabt. Es kommt selten etwas Gutes dabei heraus, und es hat leicht etwas von Anmaßung.«
    Der Sektionschef drehte sich eine Papyros und schwieg; er hatte weiter kein Bedürfnis, seine »Barbarei« zu entschuldigen. Ulrich sah seinen schlanken, braunhäutigen Fingern zu und war entzückt von der unverschämten Halbdummheit, die Tuzzi zum besten gegeben hatte. »Sie haben den gleichen, sehr modernen Grundsatz ausgesprochen, wie ihn seit Jahrtausenden die Kirchen gegenüber ihren Mitgliedern anwenden und neuerdings der Sozialismus« bemerkte er höflich. Tuzzi sah flüchtig auf, um zu erkennen, was der Vetter mit seiner Zusammenstellung meine. Dann erwartete er,

Weitere Kostenlose Bücher