Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
Nächten wieder zum Vorschein kam. »Das heißt doch nichts anderes, als daß man sich nicht zu sehr um das kümmern soll, was geschehen wird« sagte sie sich ärgerlich; »es ist das Gewöhnlichste von der Welt!« Und während sie diesen Gedanken so schlecht und einfach übersetzte, wußte sie, daß sie etwas daran nicht verstand, und gerade davon ging die Beruhigung aus, die wie ein Schlafpulver war, das ihre Verzweiflung samt dem Bewußtsein lähmte. Die Zeit huschte wie ein dunkler Strich davon, sie fühlte getröstet, daß man irgendwie ihren Mangel an anhaltender Verzweiflung auch anerkennenswert finden könne, aber es wurde ihr nicht mehr klar.
In der Nacht fließen die Gedanken bald im Hellen, bald durch Schlaf, wie Wasser im Karst, und wenn sie nach einer Weile wieder ruhig zum Vorschein kamen, hatte Diotima den Eindruck, sie habe das vorangegangene Schäumen bloß geträumt. Der kochende kleine Fluß, der hinter dem dunklen Gebirgsstock lag, war nicht der gleiche wie der stille Strom, in den Diotima schließlich hineinglitt. Zorn, Abscheu, Mut, Angst waren verronnen, es durfte solche Gefühle nicht geben, es gab sie nicht: in den Kämpfen der Seelen hat niemand Schuld! Auch Ulrich war dann wieder vergessen. Denn es waren nun bloß noch die letzten Geheimnisse, das ewige Sehnen der Seele vorhanden. Ihre Sittlichkeit liegt nicht in dem, was man tut. Sie liegt nicht in den Bewegungen des Bewußtseins noch in denen der Leidenschaft. Auch die Leidenschaften sind nur un peu de bruit autour de notre âme. Man kann Königreiche gewinnen oder verlieren, aber die Seele rührt sich nicht, und man kann nichts tun, um sein Schicksal zu erreichen, aber zuweilen wächst es aus der Tiefe des Wesens, still und täglich, wie der Gesang der Sphären. Diotima lag dann so wach wie zu keiner anderen Stunde, aber voll Vertrauen. Diese Gedanken, mit ihrem dem Auge entzogenen Schlußpunkt, hatten den Vorzug, sie selbst in den schlaflosesten Nächten nach ganz kurzer Weile einzuschläfern. Wie eine samtene Vision spürte sie ihre Liebe in das unendliche Dunkel übergehen, das über die Sterne hinausreicht, untrennbar von ihr, untrennbar von Paul Arnheim, durch keine Pläne und Absichten zu berühren. Sie fand kaum noch Zeit, nach dem Glas Zuckerwasser zu greifen, das sie zur Bekämpfung ihrer Schlaflosigkeit auf dem Nachttischlein stehen hatte, aber immer erst in diesem letzten Augenblick benutzte, weil sie es in denen der Aufregung vergaß. Der leise Laut des Trinkens perlte wie das Flüstern von Liebenden hinter einer Wand neben dem Schlaf ihres Gatten, der nichts davon hörte; dann legte sich Diotima andächtig in die Polster zurück und versank in das Schweigen des Seins.
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Der Großschriftsteller, Rückansicht
ES IST FAST zu bekannt, um davon zu sprechen: Seit ihre berühmten Gäste sich davon überzeugt hatten, daß der Ernst des Unternehmens keine großen Anstrengungen von ihnen fordere, gaben sie sich als Menschen, und Diotima, die ihr Haus von Lärm und Geist erfüllt sah, war enttäuscht. Sie kannte als eine hohe Seele das Gesetz der Vorsicht nicht, wonach man sich als Privatmann entgegengesetzt benimmt wie in seinem Beruf. Sie wußte nicht, daß Politiker, nachdem sie sich im Sitzungssaal Spitzbuben und Betrüger genannt haben, im Erfrischungssaal freundlich nebeneinander frühstücken. Daß Richter, die als Juristen einen Unglücklichen zu schwerer Strafe verurteilt haben, ihm nach Schluß der Verhandlung als Menschen teilnehmend die Hand drücken, wußte sie wohl, aber sie hatte nie daran etwas auszusetzen gefunden. Daß Tänzerinnen außerhalb ihres zweideutigen Berufs oft einen hausmütterlich einwandfreien Lebenswandel führen, hatte sie manchmal erzählen gehört und fand es sogar rührend. Auch erschien es ihr als schönes Sinnbild, daß Fürsten zu Zeiten die Krone ablegen, um nichts als Mensch zu sein. Aber als sie wahrnahm, daß auch Fürsten des Geistes sich inkognito ergehen, kam ihr dieses Doppelverhalten sonderbar vor. Welche Leidenschaft ist es und welches Gesetz liegt dieser allgemeinen Neigung zugrunde und bewirkt, daß Männer außerhalb des Berufs sich nichts wissen machen von den Männern, die sie innerhalb des Berufs sind? Sie sehen nach Schluß ihrer Arbeit, wenn sie aufgeräumt sind, genau so aus wie ein aufgeräumtes Büro, wo das Schreibzeug in den Laden verwahrt ist und die Sessel auf den Tischen stehn. Sie bestehen aus zwei Männern, und man weiß nicht, ob sie nun eigentlich am Abend oder
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