Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt
eins
Noch keine drei Minuten steht Alice Bhatti vor der Einstellungskommission, und sie ahnt bereits, dass sie die ausgeschriebene Stelle als Krankenschwester zur Aushilfe, Stufe 4, nicht bekommen wird. Allerdings sagt ihr ein scharfes Prickeln im Nacken, dass dies wahrscheinlich nicht einmal das Schlimmste ist, was ihr hier passieren kann. Bis jetzt hat man ihr noch keine Fragen gestellt, dennoch kommen ihr sämtliche Vorbereitungen – die gestärkte weiße Uniform, der nagelneue Aktenhefter, der dezente bräunliche Lippenstift, die Atemübungen zur Beruhigung ihres klopfenden Herzens, selbst die Banane, die sie an der Bushaltestelle gegessen hat, damit ihr Magen nicht knurrt – wie eine Fehlinvestition vor. Halal -Geld aus dem Haram -Fenster geworfen, wie ihr Vater Joseph Bhatti es ausgedrückt hatte. „Diese Muslas lassen dich ihre Scheiße wegwischen und beschweren sich dann, dass du stinkst“, hatte er gesagt. „Und unsere eigenen Brüder vom Herz Jesu? Erst bilden sie dich aus, und dann fragen sie dich, warum du stinkst.“
Sie ist nicht das erste Mal in diesem Raum, aber ihr graut vor der Aussicht, sich dort auf einen Stuhl setzen und Fragen beantworten zu müssen. Bisher hat man sie hier immer stehend abgefertigt. Hast du den Boden gewischt, Alice? Warum hast du den Boden nicht gewischt? Und wer, glaubst du, soll das Blut aufwischen? Dein Vater vielleicht?
Das Büro sieht aus wie eine Gedenkstätte der pharmazeutischen Industrie: Die orangefarbene Wanduhr stammt von GlaxoSmithKline, und der Wandkalender mit den blonden Models in verschiedenen Migränestadien lobpreist das Schmerzmanagement von Pfizer. Eine Schachtel mit rosa Papiertüchern verspricht „Dry Days, Dry Nights“, und ein zur Tugend der Reinlichkeit mahnender Koranvers, der in einem goldenen Rahmen die Wand ziert, trägt das Logo von Ciba-Geigy: eine Stubenfliege im Todeskampf.
Alice Bhatti überlegt: Soll sie darum bitten, dass man sie im Stehen befragt? Von einem Fuß auf den anderen tretend, versucht sie, unsichtbar zu werden, indem sie ihre Mappe an sich presst. Es ist nichts darin außer einer Kopie ihrer Bewerbung. Alice bekommt keine Gelegenheit, ihre Bitte zu äußern – die Kommission ist zu sehr damit beschäftigt, die Wirtschaftlichkeit von Schrittmachern zu erörtern. Man befindet sich am Ende einer hitzigen Debatte, und jeder will das letzte Wort haben. Sie weiß nicht genau, wovon die Rede ist, und fragt sich, warum man sie hereingerufen hat, wenn nur über Aggregate, Elektroden, laufende Kosten und herzlose Angehörige aus Toronto oder Dubai gesprochen wird, die ihre Trauer über den Tod von Verwandten ausnutzten, um ein paar Dollar oder Dirham zu sparen, sich weigerten, die Rechnung zu begleichen, Krankenwagenfahrer als Geiseln nahmen und Entschädigungen forderten.
Alice hat das seltsame Gefühl, dass sie dieses Gespräch mitanhören soll. Vielleicht ist es Teil ihres Interviews, und man wird sie später zu ihren Ansichten befragen. Sie muss also aufpassen. Der Chef der Orthopädie verwendet Begriffe wie „Professionalität“ und „Auswanderung nach Kanada“ nur, wenn er sich ärgert. Momentan ärgert sich Ortho Sir sehr: „Ich leiste hier professionelle Arbeit“, sagt er und zupft ein rosa Papiertuch aus der „Dry Nights“-Schachtel, um sich den Schweiß von der Glatze zu tupfen. Das graue, rautenförmige Mal auf seiner Stirn zeugt davon, dass er fünf Mal am Tag betet und dabei vorschriftsmäßig mit der Stirn den Boden berührt. Sein Designer-Spitzbärtchen gehört allerdings eher in die Welt der Ungläubigen. „Mein Beruf ist es, Menschen zu heilen, und zwar wenn es ihnen am schlechtesten geht. Nicht ich entscheide, wann ein Mensch stirbt. Das tut Er.“ Er deutet mit dem Zeigefinger zur Decke. Alice Bhatti schaut etwas verwirrt hinauf zum Deckenventilator. „Vertrauen Sie auf Philips“, steht dort.
Sie fragt sich, was Dahingeschiedene, die Verwandte in Dubai und Toronto hatten, in dieser Todesfalle mit dem Namen „Herz Jesu Krankenhaus“ zu suchen hatten. „Unbefugten ist der Zutritt verboten“, steht in drei Sprachen am Eingang. „Zutritt auf eigene Gefahr“, hat jemand darunter gekritzelt und damit die Gemütslage der Patienten auf den Punkt gebracht. „Waffen und Religion bitte am Tor abgeben“, besagt ein weiteres Schild unter einem kleinen Holzkreuz, das leicht schräg hängt und schon ewig nicht gestrichen wurde, in der Hoffnung, vergessen zu machen, dass es sich um eine katholische
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