Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
mit der Wahrheit begnügt, daß man merkwürdigerweise wirklich mehr Sympathie empfindet, wenn ein großer Mann etwas Schlechtes tut, als wenn ein weniger großer sich recht beträgt, sondern würde dazu übergegangen sein, daß der bedingungslose Kampf für seine Überzeugung sowohl unfruchtbar wie auch ein Verhalten ohne Tiefe und historische Ironie sei, und was diese letztere angeht, so würde er sie eben auch die Goethesche genannt haben, das heißt die Ironie des ernsten Sich-in-die-Umstände-Bequemens, mit handelndem Humor, dem die Distanz der Zeit recht gibt. Wenn man bedenkt, daß heute, nach knapp zwei Menschenaltern, das Unrecht, das dem wackeren, aufrechten und etwas übertriebenen Fichte widerfuhr, längst eine Privatangelegenheit geworden ist, die seiner Bedeutung nichts hinzutut, hingegen die Bedeutung Goethes, obgleich er sich schlecht betrug, auf die Dauer nichts Wesentliches verlor, so muß man zugeben, daß die Weisheit der Zeit tatsächlich mit der Weisheit Arnheims übereinstimmte.
Ein drittes Beispiel, das zugleich – Arnheim war immer von guten Beispielen umgeben – den tiefen Sinn der beiden ersten eröffnet: Napoleon. Heine schildert ihn in den Reisebildern in einer so sehr mit Arnheims Begriffen übereinstimmenden Weise, daß man es am besten in seinen eigenen Worten wiedergibt, die dieser auswendig wußte. »Ein solcher Geist« sagt Heine, also von Napoleon sprechend, aber er hätte es ebensogut auf Goethe anwenden können, dessen diplomatische Natur er stets mit dem Scharfsinn des Liebhabers verteidigte, der sich heimlich mit dem Gegenstand seiner Bewunderung nicht einverstanden weiß, »ein solcher Geist ist es, worauf Kant hindeudet, wenn er sagt, daß wir uns einen Verstand denken können, der nicht wie der unsrige, sondern intuitiv ist. Was wir durch langsames analytisches Nachdenken und lange Schlußfolgen erkennen, das hatte jener Geist im selben Momente angeschaut und tief begriffen. Daher sein Talent, die Zeit, die Gegenwart zu verstehen, ihren Geist zu cajoliren, ihn nie zu beleidigen und immer zu benutzen. – Da aber dieser Geist der Zeit nicht bloß revolutionär ist, sondern durch den Zusammenfluß beider Ansichten, der revolutionären und contrerevolutionären, gebildet worden, so handelte Napoleon nie ganz revolutionär und nie ganz contrerevolutionär, sondern immer im Sinne beider Ansichten, beider Principien, beider Bestrebungen, die in ihm ihre Vereinigung fanden, und demnach handelte er beständig naturgemäß, einfach, groß, nie krampfhaft barsch, immer ruhig milde. Daher intriguirte er nie im Einzelnen, und seine Schläge geschahen immer durch seine Kunst, die Massen zu begreifen und zu lenken. – Zur verwickelten, langsamen Intrigue neigen sich kleine analytische Geister, hingegen synthetische, intuitive Geister wissen auf wunderbar geniale Weise die Mittel, die ihnen die Gegenwart bietet, so zu verbinden, daß sie dieselben zu ihrem Zwecke schnell benutzen können.«
Heine dürfte das vielleicht ein wenig anders gemeint haben, als sein Bewunderer Arnheim es auffaßte, aber dieser fühlte sich geradezu durch seine Worte mitbeschrieben.
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Clarissens geheimnisvolle Kräfte und Aufgaben
CLARISSE IM ZIMMER; Walter war ihr abhanden gekommen, sie hat einen Apfel und ihren Schlafrock. Das sind, Apfel und Schlafrock, die zwei Quellen, aus denen ein unbeachteter, dünner Strahl von Wirklichkeit in ihr Bewußtsein fließt. Warum erschien ihr Moosbrugger musikalisch? Sie wußte es nicht. Vielleicht sind alle Mörder musikalisch. Sie weiß, daß sie einen Brief an Se. Erlaucht Graf Leinsdorf geschrieben hat, wegen dieser Frage; sie erinnert sich auch ungefähr an den Inhalt, doch hat sie keinen Zugang dazu.
Aber der Mann ohne Eigenschaften war unmusikalisch?
Da ihr keine rechte Antwort einfiel, ließ sie diesen Gedanken stehn und ging weiter.
Nach einer Weile fiel ihr jedoch ein: Ulrich ist der Mann ohne Eigenschaften. Ein Mann ohne Eigenschaften kann natürlich auch nicht musikalisch sein. Er kann aber auch nicht unmusikalisch sein?
Sie ging weiter.
Er hatte von ihr gesagt: Du bist mädchen- und heldenhaft.
Sie wiederholte: »mädchen- und heldenhaft!« Die Wärme stieg ihr in die Wangen. Es erwuchs daraus eine Pflicht, die ihr nicht klar wurde.
Ihre Gedanken drängten in zwei Richtungen, wie bei einem Handgemenge. Sie fühlte sich angezogen und abgestoßen, wußte aber nicht, wohin und wovon; schließlich lockte sie eine leise Zärtlichkeit, die davon, sie
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