Erzählungen
Michel Verne
Im XXIX. Jahrhundert
Ein Tag aus dem Leben eines amerikanischen Journalisten im Jahre 2889
Die Menschen des XXIX. Jahrhunderts leben unausgesetzt mitten in einem Märchenland, ohne sich den Anschein zu geben, daß sie sich darüber im klaren sind. Wundern gegenüber sind sie blasiert, besonders angesichts jener, die ihnen der tägliche Fortschritt bringt. Alles scheint ihnen natürlich. Wenn sie ihre Zivilisation mit der Vergangenheit vergleichen würden, wüßten sie die unsrige besser zu schätzen und würden sich klar darüber, welch ein enormer Weg seither zurückgelegt wurde. Um wieviel bewundernswerter würden ihnen unsre modernen Städte vorkommen: unsre Städte mit hundert Meter breiten Fahrstraßen, mit dreihundert Meter hohen Häusern mit ihrer stets gleichbleibenden Temperatur, mit einem von Tausenden von Lufttaxis und Luftbussen durchfurchten Himmel! Neben diesen unsern modernen Städten, deren Bevölkerung oft bis zu zehn Millionen Einwohner zählt, waren jene früheren Städte – die vor tausend Jahren Paris, London, Berlin und New York hießen – bloß Dörfer und Weiler, Dreckstädtchen, die schlecht gelüftet und kotig sein mußten, in denen rumpelnde Kastenwagen, von Pferden – jawohl, von Pferden! – gezogen wurden; es scheint kaum glaublich! Wenn sich unsere Zeitgenossen den mangelhaften Betrieb vorstellen würden, der damals durch Dampfschiffe und Eisenbahnen versehen wurde, mit häufigen Kollisionen und unerträglicher Langsamkeit – wie würden dann unsere Reisenden die modernen Aerotrains und vor allem die pneumatische Untergrundbeförderung hochschätzen, die die transozeanische Verbindung herstellt und die Reisenden mit einer Geschwindigkeit von fünfzehnhundert Kilometern in der Stunde zu befördern vermag! Und würden sie nicht das Fernsehtelephon bedeutend mehr schätzen, wenn sie daran dächten, wie unsere Vorfahren sich mit dem vorsintflutlichen Apparat ›Telegraph‹ genannt, zufriedengeben mußten.
Wie sonderbar! Unsere überraschenden Transformationen beruhen auf Prinzipien, die unseren Vorfahren sehr wohl bekannt sein mußten, aus denen sie aber absolut keinen Nutzen zu ziehen verstanden. Tatsächlich sind ja Wärme, Dampf und Elektrizität so alt wie die Menschheit. Bekräftigten denn nicht bereits Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Gelehrten, der einzige Unterschied zwischen physikalischen und chemischen Kräften bestehe in ihrer Art der Vibration, die beiden Kräften eigentümlich ist, den ätherischen Teilchen also?
Da sie damals also bereits diesen gewaltigen Schritt getan hatten, die Verwandtschaft aller Kräfte zu erkennen, ist es einfach unvorstellbar, daß es so lange gebraucht hat, bis es gelang, jede dieser Vibrationsarten zu bestimmen. Es ist außerordentlich, daß die Möglichkeit, einerseits direkt von einer Kraft zur andern überzugehen und sie anderseits einzeln zu produzieren, erst ganz kürzlich entdeckt wurde.
Trotzdem haben sich diese Dinge so zugetragen, und erst im Jahre 2790, vor hundert Jahren also, ist der berühmte Oswald Nyer daraufgekommen.
Ein großer Mann, ein wahrer Wohltäter der Menschheit! Seine geniale Entdeckung sollte die Mutter aller folgenden sein! Eine ganze Plejade von Erfindern entsproß ihr und fand ihre Krönung in unserem außerordentlichen James Jackson. Diesem letzteren verdanken wir die neuen Akkumulatoren, von denen die einen die Sonnenenergie, die andern die in unserer Erdkugel enthaltenen elektrischen Kräfte zu speichern vermögen; dann die dritte Gruppe von Akkumulatoren, die die Energie aus irgendeiner anderen Quelle ziehen, aus Wasserfällen, Winden, Flüssen und Strömen und dergleichen. Von ihm stammt auch jener Transformator, der auf einen einfachen Handgriff hin die elektrische Kraft aus den Akkumulatoren herausholt und sie in den Weltraum in Form von Wärme, Licht, Elektrizität und mechanischer Kraft abgibt, nachdem die von ihr erwartete Arbeit geleistet wurde.
Wahrlich, an jenem Tage, da diese zwei Apparate erfunden wurden, begann der eigentliche Erfolg. Sie haben dem Menschen beinahe uneingeschränkte Macht verliehen. Ihre Anwendungsmöglichkeiten sind nicht zu zählen. Sie haben die Landwirtschaft völlig revolutioniert, indem sie die Härten des Winterklimas durch den Einsatz sommerlichen Wärmeüberschusses ausgeglichen haben. Sie liefern den Luftfahrzeugen die fortbewegende Kraft und haben dadurch dem Handel zu einem hervorragenden Aufschwung verholfen. Ihnen verdanken wir die nie
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