Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
die eine Wolke unter den Füßen haben, ganz natürlich ist.
So hatte ihrer beider Geist von allem Großen und Schönen, was das Leben vor ihnen ausschüttete, niemals etwas unaufgeschlürft gelassen, aber in der höchsten Steigerung geschah dem ein sonderbarer Abbruch. Die Wünsche und Eitelkeiten, die sonst ihr Dasein ausgefüllt hatten, lagen unter ihnen wie die Spielzeughäuselchen und -höfchen im Talgrund, mit Gegacker, Gebelle und allen Aufregungen von der Stille verschluckt. Was übrig blieb, war Schweigen, en Leere und Tiefe.
»Sollten wir auserwählt sein?« dachte Diotima, indem sie sich auf der so beschaffenen höchsten Höhe des Gefühls umsah und etwas Martervolles und Unvorstellbares ahnte. Geringere Grade hatte sie nicht nur selbst erlebt, sondern auch ein unerläßlicher Mann wie ihr Vetter wußte von ihnen zu sprechen, und es war neuerlich viel über sie geschrieben worden. Aber wenn die Berichte nicht trogen, gab es alle tausende Jahr Zeiten, wo die Seele dem Erwachen näher ist als sonst und sich gleichsam durch einzelne Individuen in die Wirklichkeit gebiert, denen sie ganz andere Prüfungen auferlegt als Lesen und Reden. In diesem Zusammenhang fiel ihr sogar plötzlich das geheimnisvolle Auftauchen des Generals wieder ein, der nicht eingeladen worden war. Und sie sagte ganz leise zu ihrem nach neuen Worten suchenden Freund, indes die Erregung einen zitternden Bogen zwischen ihnen wölbte: »Verstand ist nicht das einzige Verständigungsmittel zwischen zwei Menschen!«
Und Arnheim erwiderte: »Nein.« Sein Blick traf wagrecht wie ein Sonnenuntergangsstrahl in ihr Auge. »Sie haben es schon vorhin gesagt. Die wahre Wahrheit zwischen zwei Menschen kann nicht ausgesprochen werden; jede Anstrengung wird ihr zum Hindernis!«
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Glaubt der moderne Mensch an Gott oder an den Chef der Weltfirma? Arnheims Unentschlossenheit
ARNHEIM ALLEIN. Er steht nachdenklich am Fenster seiner Hotelwohnung und sieht auf die entlaubten Baumkronen hinab, die ein Gitter von Strichen flechten, unter dem die Menschen bunt und dunkel die zwei sich aneinander reibenden Schlangen des Korsos bilden, der um diese Stunde begonnen hat. Ein ärgerliches Lächeln spaltete die Lippen des großen Mannes.
Es hatte ihm bisher noch nie Schwierigkeiten bereitet, das zu kennzeichnen, was er für seelenlos hielt. Was wäre heute nicht seelenlos? Die einzelnen Ausnahmen konnte man leicht als solche erkennen. Arnheim hörte fern in der Erinnerung einen Kammermusikabend; es waren Freunde bei ihm auf dem Schloß in der Mark, die preußischen Linden dufteten, die Freunde waren junge Musiker, denen es recht schlecht ging, trotzdem spielten sie ihre Begeisterung in den Abend hinein; das war seelenvoll. Oder ein anderer Fall: Er hatte sich vor kurzem geweigert, einen Beitrag, den er eine Zeitlang für einen bestimmten Künstler ausgeworfen hatte, weiter zu bezahlen. Er hatte erwartet, daß dieser Künstler böse auf ihn sein und sich im Stich gelassen fühlen werde, ehe es ihm gelungen sei, sich durchzusetzen; man mußte ihm sagen, daß es auch noch andere Künstler gebe, die der Unterstützung bedürften, und ähnliches, was unangenehm war. Statt dessen hatte dieser Mann Arnheim, als er ihn jetzt auf seiner letzten Reise traf, bloß hart ins Auge gesehen, seine Hand ergriffen und erklärt: »Sie haben mich in eine schwere Lage gebracht, aber ich bin überzeugt, ein Mensch wie Sie tut nichts ohne tiefen Grund!« Das war Mannesseele, und Arnheim war nicht abgeneigt, ein andermal wieder etwas für diesen Mann zu tun.
So besteht in vielen Einzelheiten selbst heute noch Seele; es war Arnheim immer wichtig erschienen. Wenn man aber mit ihr unmittelbar und bedingungslos in Verkehr treten muß, bedeutet sie eine ernste Gefahr für die Aufrichtigkeit. War wirklich eine Zeit im Kommen, wo sich die Seelen ohne Vermittlung der Sinne berühren? Hatte es irgend ein Ziel von Rang und Bedeutung der Wirklichkeitsziele, so miteinander zu verkehren, wie es inneres Drängen ihm und seiner wunderbaren Freundin in der letzten Zeit abnötigte? Er glaubte nicht einen Augenblick lang mit wachem Bewußtsein daran, trotzdem war es ihm klar, daß er diesem Glauben Diotimas Vorschub leistete.
Arnheim befand sich in einem eigenartigen Zwiespalt. Der sittliche Reichtum ist nah verschwistert mit dem geldlichen; das war ihm wohlbekannt, und es läßt sich leicht erkennen, warum es so ist. Denn Moral ersetzt die Seele durch Logik; wenn eine Seele Moral hat, dann gibt es
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