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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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diesem Augenblick ergriff die schändliche Vermutung von Rachel Besitz, daß der Zusammenhang zwischen ihrer Herrin und Arnheim ein weniger geistiger sein könnte, als sie geglaubt habe.
    Sie wurde bis an die Haarwurzeln rot.
    Ihre Gedanken hatten dieses Gebiet nicht berührt, seit sie bei Diotima in Dienst war. Die Pracht des Körpers ihrer Herrin hatten ihre Augen geschluckt, ohne Gedanken über die Verwendung dieser Pracht daran zu knüpfen, wie ein Pulver samt dem Papier. Ihre Genugtuung, in der Gemeinschaft hoher Menschen zu leben, war so groß gewesen, daß in der ganzen Zeit für die so leicht zu verführende Rachel ein Mann überhaupt nicht als wirkliches andersgeschlechtliches Wesen in Frage kam, sondern nur als romantisch und romanhaft anderes. Sie war in ihrem Edelmut kindlicher geworden, wurde durch ihn gleichsam wieder in die Zeit vor der Geschlechtsreife zurückversetzt, wo man so selbstlos für fremde Größe glüht, und nur dadurch war es auch zu erklären, daß die Flausen Solimans, über die eine Köchin verächtlich lachen durfte, bei ihr auf Nachgiebigkeit und berauschte Schwäche stießen. Aber als Rachel nun so auf der Erde kauerte und den Gedanken an ein ehebrecherisches Verhältnis zwischen Arnheim und Diotima gleichsam an den Tag gelegt vor sich sah, vollzog sich in ihr die lang schon angebahnte Umwälzung eines Erwachens aus einem unnatürlichen Seelenzustand in den mißtrauischen Fleischeszustand der Welt.
    Sie war mit einem Schlag gänzlich unromantisch, etwas ärgerlich und ein herzhafter Körper, der meinte, daß auch ein Dienstmädchen einmal zu seinem Recht kommen könne. Soliman hockte neben ihr vor seinem Warenlager, hatte alles zusammengeholt, was sie besonders bewundert hatte, und versuchte, als Geschenk in Rachels Schürzentasche zu stopfen, was davon nicht zu groß war. Nun sprang er auf und bearbeitete mit einem Taschenmesser rasch noch einmal den versperrten Koffer. Er erklärte wild, auf das Scheckbuch seines Herrn – denn in Geldsachen kannte sich der närrische Teufel recht unkindlich aus – ein großes Reisegeld beheben zu wollen, ehe Arnheim zurückkehre, und mit Rachel zu fliehn, aber zuvor müsse er seine Papiere erlangen.
    Rachel, kniend, stand auf, entleerte ihre Taschen entschlossen von allen hineingestopften Geschenken und sagte: »Schwatz nicht! Ich habe keine Zeit mehr; wieviel Uhr ist es?« Ihre Stimme war tiefer geworden. Sie strich die Schürze glatt und rückte das Häubchen zurecht; Soliman fühlte sofort, daß sie ihm das Spiel hinwarf und mit einemmal älter als er war. Aber ehe er sich widersetzen konnte, gab Rachel ihm den Abschiedskuß. Ihre Lippen zitterten nicht wie sonst, sondern preßten sich in die saftige Frucht seines Gesichts, wobei sie den Kopf des kleineren Solimans zurückbog und so lange festhielt, daß er halb erstickte. Soliman zappelte, und als er losgelassen wurde, war ihm zumute, als hätte ihn ein stärkerer Knabe unter Wasser getaucht, und er wollte im ersten Augenblick nichts als Rache für diese unangenehme Unbill. Aber Rachel war durch die Tür entschlüpft, und der Blick, der sie allein noch einholte, war zwar am Beginn zornig wie ein an der Spitze brennender Pfeil, aber brannte dann gegen das Ende zu sanfter Asche, und Soliman hob das Eigentum seines Herrn vom Boden auf, um es zurückzulegen, und war ein junger Mann geworden, der etwas zu gewinnen wünschte, das keineswegs unerreichbar war.

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Hohe Liebende haben nichts zu lachen
    ARNHEIM WAR in Anschluß an den Gebirgsausflug länger verreist gewesen als sonst. Dieser Gebrauch des Wortes »verreist«, den er selbst unwillkürlich angenommen hatte, ist sonderbar, wenn man richtig sagen müßte »zuhause gewesen«. Arnheim fühlte aus solcherlei vielen Gründen, daß es dringend notwendig werde, zu einer Entscheidung zu kommen. Er wurde von unangenehmen Tagträumen verfolgt, wie es sein strenger Kopf noch nie erlebt hatte. Namentlich einer war hartnäckig; er sah sich mit Diotima auf einem hohen Kirchturm stehn, das Land lag einen Augenblick lang grün zu ihren Füßen, und dann sprangen sie hinab. Abends ohne alle Ritterlichkeit in das Tuzzische Schlafzimmer einzudringen und den Sektionschef niederzuschießen, war offenbar das gleiche. Er hätte ihn auch im Duell niederstrecken können, aber es erschien ihm weniger natürlich; diese Phantasie war schon durch zuviel Wirklichkeitszeremonien beschwert, und je mehr Arnheim sich der Wirklichkeit näherte, desto unangenehmer

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