Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
wuchsen die Widerstände. Schließlich hätte man ja auch sozusagen frei und offen bei Tuzzi um die Hand seiner Gattin anhalten können. Aber was würde der dazu sagen? Das hieß bereits, sich in eine Lage voll der Möglichkeiten begeben, sich lächerlich zu machen. Und gesetzt den Fall, Tuzzi würde sich sogar human betragen und der Skandal bliebe aufs kleinste beschränkt, – ja selbst wenn man annahm, es würde überhaupt keinen Skandal geben, da Scheidungen damals schon anfingen auch in der besten Gesellschaft geduldet zu werden, – so bliebe noch bestehen, daß ein alter Junggeselle sich durch eine späte Heirat stets ein wenig lächerlich macht, ungefähr so wie ein Ehepaar, das zu seiner silbernen Hochzeit noch ein Kind bekommt. Und wenn Arnheim schon so etwas tun wollte, so würde die Verantwortung gegenüber dem Geschäft zumindest verlangt haben, daß er eine große amerikanische Witwe oder eine dem Hof nahestehende Adelige heirate und nicht die geschiedene Frau eines bürgerlichen Beamten. Für ihn war jede Handlung, auch die sinnliche, von Verantwortung durchdrungen. In einer Zeit, wo so wenig Verantwortung herrscht für das, was man tut oder denkt, wie in der gegenwärtigen, war es keineswegs nur persönlicher Ehrgeiz, was solche Einwände machte, sondern geradezu ein überpersönliches Bedürfnis, die in den Händen der Arnheims gewachsene Macht (dieses Gebilde, das ursprünglich aus dem Drang nach Geld entstanden, dann aber längst ihm entwachsen war, seine eigene Vernunft, seinen eigenen Willen hatte, sich vergrößern, festigen mußte, erkranken konnte, rostete, wenn es rastete!) in Einklang mit den Mächten und Rangordnungen des Daseins zu bringen, woraus er auch vor Diotima, soviel er wußte, nie ein Hehl gemacht hatte. Freilich vermochte ein Arnheim es sich zu erlauben, sogar eine Ziegenhirtin zu heiraten; aber er vermochte es sich nur persönlich zu erlauben, und darüber hinaus blieb es immer noch der Verrat einer Sache an eine persönliche Schwäche.
Es war trotzdem richtig, daß er Diotima vorgeschlagen hatte, sie zu heiraten. Er hatte es schon deshalb getan, weil er den Situationen des Ehebruchs vorbeugen wollte, die mit einer großen, gewissenhaften Lebenshaltung unverträglich sind. Diotima hatte ihm dankbar die Hand gedrückt und mit einem an die besten kunsthistorischen Vorbilder gemahnenden Lächeln auf seinen Antrag erwidert: »Niemals lieben wir die, welche wir umarmen, am tiefsten …!« Nach dieser Antwort, die so vieldeutig war wie das lockende Gelb im Schoß der strengen Lilie, hatte es Arnheim an Entschlossenheit gefehlt, auf seine Bitte zurückzukommen. Aber es entstanden an ihrer Stelle Gespräche allgemeiner Natur, in denen die Worte Scheidung, Heirat, Ehebruch und ähnliche einen merkwürdigen Drang bewiesen, in Erscheinung zu treten. So hatten Arnheim und Diotima wiederholt ein profundes Gespräch über die Behandlung des Ehebruchs in der zeitgenössischen Literatur, und Diotima fand, daß dieses Problem durchwegs ohne Empfinden für den großen Sinn von Zucht, Versagen, heldischer Askese, rein sensualistisch behandelt werde, was leider genau auch die Meinung war, die Arnheim davon hatte, so daß ihm nur hinzuzufügen blieb, daß der Sinn für das tiefe moralische Geheimnis der Person heute fast allgemein verlorengegangen sei. Dieses Geheimnis besteht darin, daß man sich nicht alles gestatten darf. Eine Zeit, in der alles erlaubt ist, hat noch jedesmal die in ihr gelebt haben unglücklich gemacht. Zucht, Enthaltsamkeit, Ritterlichkeit, Musik, die Sitte, das Gedicht, die Form, das Verbot, alles das hat keinen tieferen Zweck, als dem Leben eine eingeschränkte und bestimmte Gestalt zu verleihen. Es gibt kein grenzenloses Glück. Es gibt kein großes Glück ohne große Verbote. Selbst im Geschäft darf man nicht jedem Vorteil nachlaufen, sonst kommt man zu nichts. Die Grenze ist das Geheimnis der Erscheinung, das Geheimnis der Kraft, des Glücks, des Glaubens und der Aufgabe, sich als winziger Mensch in einem Universum zu behaupten. So führte es Arnheim aus, und Diotima konnte ihm nur beipflichten. Es war in gewissem Sinn eine bedauerliche Folge solcher Erkenntnisse, daß durch sie der Begriff der Legitimität eine Bedeutungsfülle erhielt, die er für gewöhnliche Wesen allgemein nicht mehr besitzt. Jedoch große Seelen haben ein Bedürfnis nach Legitimität. Man ahnt in erhabenen Stunden die senkrechte Strenge des Alls. Und der Kaufmann, obgleich er die Welt beherrscht,
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