Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
sondern eine unendliche Flüssigkeit, in die man hineinfällt. Man denke sich an jede dieser Abkürzungen einige Hundert oder Dutzend Druckseiten geknüpft, an jede Seite einen Mann mit zehn Fingern, der sie schreibt, an jeden Finger zehn Schüler und zehn Gegner, an jeden Schüler und Gegner zehn Finger, und an jeden Finger den zehnten Teil einer persönlichen Idee, so gewinnt man eine kleine Vorstellung von ihr. Ohne sie kann selbst der bekannte Sperling nicht vom Dach fallen. Sonne, Wind, Nahrung haben ihn hingeführt, Krankheit, Hunger, Kälte oder eine Katze ihn getötet; aber alles das hätte nicht ohne biologische, psychologische, meteorologische, physikalische, chemische, soziale usw. Gesetze geschehen können, und es ist eine rechte Beruhigung, wenn man solche Gesetze bloß sucht, statt daß man sie, wie in der Moral und Rechtsgelehrtheit, selbst erzeugt. Was übrigens Moosbrugger persönlich angeht, so hatte er, wie man weiß, großen Respekt vor dem menschlichen Wissen, von dem er einen leider nur so kleinen Teil besaß, aber er würde seine Lage niemals ganz begriffen haben, auch wenn er sie gekannt hätte. Er ahnte sie dunkel. Sein Zustand kam ihm unfest vor. Sein mächtiger Körper hielt nicht ganz zu. Der Himmel schaute zuweilen in den Schädel hinein. So, wie es früher oft auf den Wanderungen gewesen war. Und niemals, wenn sie jetzt auch zuweilen geradezu unangenehm war, verließ ihn eine gewisse wichtige Gehobenheit, die ihm durch die Kerkermauern aus der ganzen Welt zuströmte. So saß er als die wilde, eingesperrte Möglichkeit einer gefürchteten Handlung wie eine unbewohnte Koralleninsel inmitten eines unendlichen Meeres von Abhandlungen, das ihn unsichtbar umgab.
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Es gibt für Juristen keine halbverrückten Menschen
IMMERHIN, EIN VERBRECHER läßt es sich oft sehr leicht werden, im Vergleich mit der anstrengenden Denkarbeit, zu der er die Gelehrten nötigt. Der Inkulpant macht es sich einfach zunutze, daß die Übergänge von der Gesundheit zur Krankheit in der Natur gleitend sind; wogegen der Jurist in solchem Fall behaupten muß, daß »sich die Bejahungs- und Verneinungsgründe in bezug auf die freie Selbstbestimmung oder die Einsicht in den verbrecherischen Charakter der Tat derart durchkreuzen und aufheben, daß nach allen Denkregeln nur ein problematisches Urteil herauskommt«. Denn der Jurist hält sich aus logischen Gründen vor Augen, daß man »in betreff derselbigen Tat niemals ein Mischungsverhältnis zweier Zustände zugeben dürfe«, und er läßt nicht zu, daß sich »das Prinzip der sittlichen Freiheit im Verhältnis zu den körperlich bedingten Seelenzuständen in die nebelhafte Unbestimmtheit des Erfahrungsdenkens auflöse«. Er holt seine Begriffe nicht aus der Natur, sondern durchdringt die Natur mit der Flamme des Denkens und dem Schwert des Sittengesetzes. Und daran hatte sich in dem vom Justizministerium zur Erneuerung des Strafgesetzbuches einberufenen Ausschuß, dem Ulrichs Vater angehörte, ein Streit entzündet; aber es hatte etlicher Zeit und einiger Mahnungen, die ihn zur Erfüllung kindlicher Pflicht antrieben, bedurft, ehe sich Ulrich die Darstellung seines Vaters samt allen Beilagen ganz zu eigen machte.
Sein »Dich liebender Vater« – denn als solcher unterschrieb er sich noch auf den bittersten Briefen – hatte die Behauptung und Forderung aufgestellt, daß eine teilweise kranke Person nur dann freizusprechen sei, wenn sich nachweisen lasse, daß unter ihren Wahnvorstellungen solche vorgekommen seien, die – wenn sie keine Wahnvorstellungen wären – die Handlung rechtfertigen oder ihre Strafbarkeit aufheben würden. Professor Schwung dagegen – vielleicht, weil er seit vierzig Jahren der Freund und Kollege des alten Herrn war, was schließlich doch einmal zu einem heftigen Gegensatz führen muß hatte die Behauptung und Forderung aufgestellt, daß ein solches Individuum, worin die Zustände der Zurechnungsfähigkeit und Unzurechnungsfähigkeit, da sie juridisch nicht nebeneinander zu bestehen vermögen, nur in schnellem Wechsel aufeinander folgen können, bloß dann freizusprechen sei, wenn sich in bezug auf das einzelne Wollen nachweisen lasse, daß es dem Inkulpanten gerade im Augenblick dieses Wollens unmöglich gewesen sei, es zu beherrschen. Dies war der Ausgangstatbestand. Es ist für den Laien leicht zu erkennen, daß es dem Verbrecher dabei nicht weniger schwierig sein mag, keinen Augenblick gesunden Willens in der Sekunde der Tat zu
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