Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
übersehen, wie keine Vorstellung, die vielleicht seine Strafbarkeit begründen könnte; aber die Aufgabe der Rechtspflege ist es ja nicht, dem Denken und sittlichen Handeln ein Faulbett zu bieten! Und weil beide Gelehrte von der Würde des Rechts in gleichem Maße überzeugt waren und keiner die Mehrheit des Ausschusses auf seine Seite bringen konnte, warfen sie einander zuerst Irrtum, dann aber in rascher Aufeinanderfolge Unlogik, gewolltes Mißverstehen und mangelnde Idealität vor. Sie taten dies zuerst im Schoß des unentschlossenen Ausschusses; dann aber, als darüber die Sitzungen zu stocken begannen, vertagt werden mußten und endlich gar lange aussetzten, schrieb Ulrichs Vater zwei Broschüren »§ 318 StGB. und der wahre Geist des Rechts« sowie »§ 318 StGB. und die getrübten Quellen der Rechtsfindung«, und Professor Schwung kritisierte. sie in der Zeitschrift »Die gelehrte Juristenwelt«, die Ulrich gleichfalls unter den Beilagen vorfand.
Es kamen in diesen Streitschriften viele Und und Oder vor, denn es mußte die Frage »bereinigt« werden, ob man die beiden Auffassungen durch ein Und verbinden könne oder durch ein Oder trennen müsse. Und als nach langer Pause der Ausschuß wieder einen Schoß bildete, hatte sich in diesem bereits eine Und- und eine Oderpartei getrennt. Außerdem gab es aber auch eine Partei, die sich für den einfachen Vorschlag einsetzte, das Maß der Zurechnung und Zurechnungsfähigkeit im gleichen Verhältnis steigen und fallen zu lassen, wie die Größe des Aufwands an psychischer Kraft steige und falle, die unter den gegebenen Krankheitsumständen zur Selbstbeherrschung hinreichen würde. Dieser Partei stand eine vierte entgegen, die darauf beharrte, daß vorerst voll und ganz entschieden werden müsse, ob ein Täter überhaupt zurechnungsfähig sei; denn die Verminderung der Zurechnungsfähigkeit setze begrifflich das Vorhandensein der Zurechnungsfähigkeit voraus, und sei der Täter in einem Teil zurechnungsfähig, so müsse er voll und ganz bestraft werden, weil man diesen Teil anders nicht strafrechtlich erfassen könne. Gegen diese Partei wandte sich eine neue, die das Prinzip zwar zugab, aber hervorhob, daß die Natur sich nicht daran halte, die auch halbverrückte Menschen erzeuge; weshalb man diesen die Wohltat des Rechts nur in der Form zuwenden könne, daß man zwar von einer Minderung ihrer Schuld absehe, aber den Umständen durch eine Milderung der Strafe Rechnung trage. So bildete sich auch noch eine Zurechnungsfähigkeitspartei und eine Zurechnungspartei, und als auch diese sich genügend geteilt hatten, wurden erst die Gesichtspunkte frei, über deren Anwendung man sich noch nicht entzweit hatte. Natürlich macht kein Fachmann heute seine Streitigkeiten von den Streitigkeiten der Philosophie und Theologie abhängig, aber als Perspektiven, das heißt so leer wie der Raum und doch wie er die Dinge zusammenschiebend, mengen sich diese beiden Nebenbuhlerinnen um die letzte Weisheit überall in die Fachoptik ein. Und so bildete schließlich hier auch noch die sorgsam umgangene Frage, ob man jeden Menschen für sittlich frei ansehen dürfe, mit einem Wort die gute alte Frage der Willensfreiheit ein perspektivisches Zentrum aller Meinungsverschiedenheiten, obgleich sie außerhalb ihrer Erörterung lag. Denn ist der Mensch sittlich frei, so muß man durch die Strafe einen praktischen Zwang auf ihn ausüben, an den man theoretisch nicht glaubt; sieht man ihn aber nicht für frei an, sondern hält ihn für das Stelldichein unabänderlich verknüpfter Naturvorgänge, so kann man zwar durch die Strafe eine wirksame Unlusttendenz in ihm erregen, aber man darf ihm nicht sittlich anrechnen, was er tut. Wegen dieser Frage entstand also noch eine neue Partei, die vorschlug, den Täter in zwei Teile zu teilen; einen zoologisch-psychologischen, der den Richter nichts angehe, und einen juridischen, der zwar nur eine Konstruktion, aber rechtlich frei sei. Glücklicherweise beschränkte sich das auf die Theorie.
Es ist schwer, der Gerechtigkeit in Kürze Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die Kommission bestand aus ungefähr zwanzig Gelehrten, denen es möglich war, einige tausend Standpunkte zueinander einzunehmen, wie sich leicht nachrechnen läßt. Die Gesetze, die verbessert werden sollten, standen seit dem Jahre 1852 in Anwendung, es handelte sich also überdies um eine sehr dauerhafte Sache, die man nicht leichtfertig durch eine andere ersetzen darf. Und überhaupt kann
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