Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
meinte er damit diese Unfähigkeit eines geistvollen Mannes, die Vorteile zu erkennen, die das Leben bietet, und seinen Geist den großen Gegenständen und Gelegenheiten anzupassen, die ihm Würde und Standfestigkeit verleihen könnten. Ulrich zeigte die lächerliche gegenteilige Gesinnung, das Leben müsse sich dem Geist anpassen. Arnheim sah ihn vor sich; ebenso groß wie er selbst, jünger, ohne die Weichheiten, die er an seinem eigenen Körper sich nicht verbergen konnte; etwas bedingungslos Unabhängiges war im Gesicht; er führte es, nicht ganz ohne Neid, auf den Abkömmling asketischer Gelehrtengeschlechter zurück, denn so stellte er sich Ulrichs Herkunft vor. Unbesorgter um Geld und Wirkung war dieses Gesicht, als eine aufstrebende Dynastie von Veredlungsverkehrfachleuten es ihren Nachkommen gestattet! Aber in diesem Gesicht fehlte etwas. Das Leben fehlte darin, die Spuren des Lebens fehlten erschrecklich! Es war das in dem Augenblick, wo Arnheim es überdeutlich vor sich sah, ein so beunruhigender Eindruck, daß er daran seine ganze Neigung für Ulrich wieder erkannte; fast hätte man diesem Gesicht ein Unheil vorhersagen können. Er grübelte diesem zwiespältigen Empfinden von Neid und Sorge nach; es war eine traurige Genugtuung, wie sie jemand empfinden mag, der sich selbst mit Feigheit in Sicherheit gebracht hat, und plötzlich warf eine heftige Aufwallung von Neid und Mißbilligung den Gedanken empor, den er unbewußt gesucht und gemieden hatte. Es war ihm eingefallen, Ulrich wäre wohl ein Mann, der nicht nur die Zinsen, sondern das ganze Kapital seiner Seele zum Opfer bringen würde, wenn die Umstände es von ihm verlangten! Ja, das war es, was Arnheim merkwürdigerweise auch unter Ulrichs Witz verstand. Es wurde ihm in diesem Augenblick, wo er sich der von ihm selbst geprägten Worte entsann, vollkommen klar: die Vorstellung, ein Mann könnte sich von seiner Leidenschaft gleichsam über den atembaren Raum hinausreißen lassen, kam ihm wie ein Witz vor!
Als sich Soliman ins Zimmer schlich und vor seinem Herrn stehenblieb, hatte dieser größtenteils vergessen, weswegen er ihn kommen geheißen, aber er spürte die Beruhigung, die von einem lebendigen und ergebenen Wesen ausging. Er schritt mit verschlossener Miene im Zimmer auf und ab, und die schwarze Scheibe des Gesichts drehte sich ihm nach. »Setz dich« befahl Arnheim, blieb in der Ecke so, wie er sich auf dem Absatz gewendet hatte, stehen und begann: »Der große Goethe gibt an einer Stelle des Wilhelm Meister mit einer gewissen Leidenschaftlichkeit eine Vorschrift des richtigen Lebens, sie heißt: ‚Denken, um zu tun; tun, um zu denken!‘ Verstehst du das? Nein, das kannst du wohl doch nicht verstehn…« beantwortete er sich diese Frage selbst und verstummte wieder. »Es ist ein Rezept, das alle Weisheit des Lebens enthält,« dachte er »und der mein Gegner sein möchte, kennt davon nur die eine Hälfte, Denken!« Es war ihm eingefallen, daß man auch das noch unter »bloß Witz haben« verstehen könne. Er erkannte die Schwäche Ulrichs. Witz kommt von wissen, eine sprachliche Weisheit, denn sie bezeichnet die intellektuelle Herkunft dieser Eigenschaft, ihre gespenstische, gefühlsarme Natur; der Witzige ist immer vorwitzig, er setzt sich über die gegebenen Grenzen hinweg, an denen der voll Fühlende haltmacht. So war die Angelegenheit mit Diotima und der Kapitalssubstanz der Seele unter einen erfreulicheren Gesichtspunkt gebracht, und zu Soliman sagte Arnheim, indes er das dachte: »Es ist eine Vorschrift, die alle Weisheit des Lebens enthält, und ihretwegen habe ich dir die Bücher entzogen und halte dich zur Arbeit an!«
Soliman erwiderte nichts und machte ein tiefernstes Gesicht.
»Du hast einigemal meinen Vater gesehn,« fragte Arnheim plötzlich »erinnerst du dich an ihn?«
Soliman fand es angebracht, das Weiße seiner Augen hervorzukugeln, und Arnheim sagte nachdenklich: »Siehst du, mein Vater liest fast niemals Bücher. Was meinst du, wie alt mein Vater ist?« Er wartete die Antwort wieder nicht ab und setzte selbst hinzu: »Er ist schon über siebzig Jahre alt und hat seine Hand noch überall, wo für unser Haus etwas auf dem Spiel steht!« Dann ging Arnheim wieder schweigend auf und ab. Er empfand ein unbezwingliches Bedürfnis, über seinen Vater zu reden, aber er konnte nicht alles sagen, was er dachte. Niemand wußte besser als er, daß auch seinem Vater zuweilen Geschäfte fehlschlugen; aber niemand würde es ihm
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