Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
nicht leiden, wenn man derart davon sprach; er putzte es freilich selbst manchmal mit Erinnerungen an geistliche Reden auf oder legte es nach den Ratschlägen des Simulierens an, die man in den Gefängnissen erhält, aber das Material dazu war immer bereit; bloß etwas verblaßt, wenn man nicht gerade darauf achtete.
So war es auch auf den Wanderschaften gewesen. Im Winter ist für einen Zimmermann schwer Arbeit zu finden, und Moosbrugger lag oft wochenlang auf der Straße. Nun ist man tageweit gewandert, gelangt in den Ort und findet kein Unterkommen. Muß bis spät in die Nacht weitermarschieren. Für eine Mahlzeit hat man kein Geld, so trinkt man Schnaps, bis hinter den Augen zwei Kerzen leuchten und der Körper allein geht. In der »Station« will man nicht um ein Nachtlager bitten, trotz der warmen Suppe, teils wegen des Ungeziefers und teils wegen der kränkenden Schererei; so bettelt man lieber ein paar Kreuzer zusammen und kriecht einem Bauern ins Heu. Ohne ihn zu bitten, natürlich, denn was soll man erst lang fragen und sich doch nur beleidigen lassen. Am Morgen gibt das freilich oft Streit und Anzeigen wegen Gewalttätigkeit, Vagabondage und Bettelei, und schließlich ergibt es einen immer dicker werdenden Bund solcher Vorstrafen, den jeder neue Richter wichtigtuerisch aufmacht, als ob Moosbrugger darin erklärt wäre.
Und wer denkt daran, was es heißt, sich tage- und wochenlang nicht richtig waschen zu können. Die Haut wird so steif, daß sie nur grobe Bewegungen erlaubt, selbst wenn man zärtliche machen wollte, und unter einer solchen Kruste erstarrt die lebendige Seele. Der Verstand mag weniger davon berührt werden, das Notwendige wird man ganz vernünftig tun; er mag eben wie ein kleines Licht in einem riesigen wandelnden Leuchtturm brennen, der voll zerstampfter Regenwürmer oder Heuschrecken ist, aber alles Persönliche ist darin zerquetscht, und es wandelt nur die gärende organische Substanz. Dann begegneten dem wandernden Moosbrugger, wenn er durch die Dörfer kam oder auch auf der einsamen Straße, ganze Prozessionen von Frauen. Jetzt eine, und eine halbe Stunde später zwar erst wieder eine Frau, aber wenn sie selbst in so großen Zwischenräumen kamen und gar nichts miteinander zu tun hatten, im ganzen waren es doch Prozessionen. Sie gingen von einem Dorf zum andern oder hatten nur soeben vors Haus gesehn, sie trugen dicke Tücher oder Jacken, die in einer steifen Schlangenlinie um die Hüften standen, sie traten in warme Stuben ein oder trieben ihre Kinder vor sich her oder waren auf der Straße so allein, daß man sie mit einem Stein hätte werfen können wie eine Krähe. Moosbrugger behauptete, daß er kein Lustmörder sein könne, weil ihn immer nur Gefühle der Abneigung gegen diese Frauenspersonen beseelt hätten, und das erscheint nicht unwahrscheinlich, denn man will doch auch eine Katze verstehn, die vor einem Bauer sitzt, in dem ein dicker blonder Kanarienvogel auf und nieder hüpft; oder eine Maus schlägt, ausläßt, wieder schlägt, nur um sie noch einmal fliehen zu sehn; und was ist ein Hund, der einem rollenden Rad nachläuft, nur noch im Spiel beißend, er, der Freund des Menschen?: da ist im Verhalten zum Lebendigen, Bewegten, stumm vor sich hin Rollenden oder Huschenden eine geheime Abneigung gegen das sich seiner selbst freuende Mitgeschöpf berührt. Und was sollte man schließlich machen, wenn sie schrie? Man könnte nur zur Besinnung kommen oder, wenn man das eben nicht kann, ihr Gesicht zu Boden drücken und Erde ihr in den Mund stopfen.
Moosbrugger war nur ein Zimmermannsgeselle, ein ganz einsamer Mensch, und obgleich er auf allen Plätzen, wo er arbeitete, von den Kameraden gut gelitten war, hatte er keinen Freund. Der stärkste Trieb wendete von Zeit zu Zeit sein Wesen grausam nach außen; aber vielleicht hatte ihm wirklich, wie er sagte, nur die Erziehung und die Gelegenheit gefehlt, um etwas anderes daraus zu machen, einen Massenwürgengel oder Theaterbrandstifter, einen großen Anarchisten; denn die Anarchisten, die sich in Geheimbünden zusammentun, nannte er mit Verachtung die falschen. Er war ersichtlich krank; aber wenn auch offenbar seine krankhafte Natur den Grund für sein Verhalten abgab, die ihn von den anderen Menschen absonderte, ihm kam das wie ein stärkeres und höheres Gefühl von seinem Ich vor. Sein ganzes Leben war ein zum Lachen und Entsetzen unbeholfener Kampf, um Geltung dafür zu erzwingen. Er hatte schon als Bursche einem Brotherrn die
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