Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
fahrlässig. Aber wie die Verhältnisse nun einmal liegen und nur die Wahl lassen, daß dieser Mensch entweder unschuldig getötet wird oder Unschuldige tötet: Würden Sie ihn in der Nacht vor seiner Hinrichtung entschlüpfen lassen, wenn Sie die Macht dazu hätten?«
»Nein!« sagte Ulrich.
»Nein? Wirklich nein?!« fragte Arnheim, plötzlich sehr lebhaft.
»Ich weiß es nicht. Ich glaube nein. Ich könnte mich natürlich darauf ausreden, daß ich in einer falsch eingerichteten Welt gar nicht so handeln darf, wie es mir recht vorkommt; aber ich will Ihnen einfach zugeben, daß ich nicht weiß, was ich zu tun hätte.«
»Dieser Mann ist zweifellos unschädlich zu machen« sagte Arnheim nachdenklich. »Er ist aber in den Zeiten seiner Anfälle ein Sitz des Dämonischen, das in allen starken Jahrhunderten dem Göttlichen verwandt empfunden worden ist. Früher hätte man den Mann, wenn seine Anfälle kamen, in die Wüste geschickt; er würde dann vielleicht auch gemordet haben, aber in einer großen Vision, wie Abraham den Isaak schlachten wollte! Das ist es! Wir wissen heute nichts mehr damit anzufangen, und wir meinen nichts mehr ehrlich!«
Vielleicht hatte sich Arnheim zu diesen letzten Worten hinreißen lassen und wußte selbst nicht genau, was er damit sagen wollte; daß Ulrich nicht so viel »Seele und Torheit« aufbrachte, um die Frage, ob er Moosbrugger retten würde, ohne Hemmung zu bejahen, hatte seinen eigenen Ehrgeiz aufgestachelt. Aber Ulrich, obwohl er diese Wendung des Gesprächs fast als ein Zeichen empfand, das ihn unerwartet an seinen »Beschluß« im Leinsdorfschen Palais erinnerte, ärgerte sich über die verschwenderische Ausschmückung, die Arnheim dem Gedanken an Moosbrugger gab, und beides ließ ihn gespannt trocken fragen: »Würden Sie ihn befreien?«
»Nein« erwiderte Arnheim lächelnd; »aber ich wollte Ihnen einen anderen Vorschlag machen.« Und ohne ihm Zeit zum Widerstand zu lassen, fuhr er fort: »Ich will Ihnen schon lange diesen Vorschlag machen, damit Sie Ihr Mißtrauen gegen mich aufgeben, das mich, offen gestanden, kränkt; ich möchte Sie sogar für mich gewinnen! Haben Sie eine Vorstellung davon, wie ein großes Wirtschaftsunternehmen innen aussieht? Es hat zwei Spitzen: die Geschäftsleitung und den Verwaltungsrat; über diesen beiden gewöhnlich noch eine dritte, das Exekutivkomitee, wie Sie es hierzulande nennen, das aus Teilen von beiden besteht und täglich oder beinahe täglich zusammentritt. Der Verwaltungsrat ist selbstverständlich mit Vertrauensleuten der Aktienmajorität besetzt –« Er gönnte Ulrich jetzt erst eine Pause, und sie war so, als prüfe er ihn, ob ihm nicht schon bisher etwas aufgefallen sei. »Ich sagte, die Aktienmajorität entsende ihre Vertrauensleute in Verwaltungsrat und Exekutivkomitee« half er nach: »Stellen Sie sich unter dieser Majorität etwas Bestimmtes vor?«
Ulrich tat es nicht; er besaß nur eine unbestimmte Sammelvorstellung vom Geldwesen, die Beamte, Schalter, Kupons und urkundenähnliche Papiere enthielt.
Arnheim half abermals nach. »Haben Sie schon jemals einen Verwaltungsrat gewählt? Sie haben es nie getan!« – setzte er gleich selbst hinzu – »Und es würde auch keinen Sinn haben, daran zu denken, denn Sie werden nie die Aktienmajorität eines Unternehmens besitzen!« Er sagte das so bestimmt, daß sich Ulrich fast durch den Mangel einer so wichtigen Eigenschaft hätte beschämt fühlen können; und es war auch ein echt Arnheimscher Einfall, mit einem einzigen Schritt und ohne Mühe von den Dämonen zu den Verwaltungsräten überzugehn. Er fuhr lächelnd fort: »Ich habe Ihnen eine Person bisher nicht genannt, und es ist in gewissem Sinn die wichtigste! Ich habe ‚die Aktienmajorität‘ gesagt, das klingt wie eine harmlose Vielheit: dennoch ist das fast immer eine einzelne Person, ein ungenannter und der großen Öffentlichkeit unbekannter Hauptanteilbesitzer, der von jenen verdeckt wird, die er an seiner Statt vorschickt!«
Nun dämmerte es Ulrich natürlich, daß dies Dinge seien, von denen man jeden Tag in der Zeitung lesen könne; aber Arnheim verstand es immerhin, ihnen Spannung zu geben. Neugierig fragte er ihn, wer die Aktienmajorität der Lloyd-Bank besitze.
»Das weiß man nicht« erwiderte Arnheim ruhig. »Richtiger gesagt, Eingeweihte wissen es natürlich, aber es ist nicht üblich, davon zu sprechen. Lassen Sie mich lieber auf den Kern dieser Dinge kommen: Überall, wo zwei solche Kräfte da sind, ein
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