Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
Auftraggeber auf der einen, eine Verwaltung auf der anderen Seite, entsteht von selbst die Erscheinung, daß jedes mögliche Mehrungsmittel ausgenutzt wird, ob es nun moralisch und schön ist oder nicht. Ich sage wirklich ‚von selbst‘, denn diese Erscheinung ist in hohem Grade unabhängig vom Persönlichen. Der Auftraggeber kommt nicht unmittelbar in Berührung mit der Ausführung, und die Organe der Verwaltung sind dadurch gedeckt, daß sie nicht aus persönlichen Gründen, sondern als Beamte handeln. Dieses Verhältnis finden Sie heute allenthalben und durchaus nicht nur im Geldwesen. Sie können versichert sein, daß unser Freund Tuzzi in größter Gewissensruhe das Zeichen zu einem Krieg geben würde, selbst wenn er persönlich nicht einen alten Hund totschießen könnte, und Ihren Freund Moosbrugger werden Tausende zum Tode befördern, weil sie es bis auf drei nicht mit leiblicher Hand zu tun brauchen! Durch diese zur Virtuosität ausgebildete ‚Indirektheit‘ wird heute das gute Gewissen jedes Einzelnen wie der ganzen Gesellschaft gesichert; der Knopf, auf den man drückt, ist immer weiß und schön, und was am anderen Ende der Leitung geschieht, geht andere Leute an, die für ihre Person wieder nicht drücken. Finden Sie es abscheulich? So lassen wir Tausende sterben oder vegetieren, bewegen Berge von Leid, richten damit aber auch etwas aus! Ich möchte beinahe behaupten, daß sich darin, in der Form der sozialen Arbeitsteilung, nichts anderes ausdrückt als die alte Zweiteilung des menschlichen Gewissens in gebilligten Zweck und in Kauf genommene Mittel, wenn auch in einer grandiosen und gefährlichen Weise.«
Ulrich hatte zu Arnheims Frage, ob er das verabscheue, die Achseln gezuckt. Die Teilung des moralischen Bewußtseins, von der Arnheim sprach, diese fürchterlichste Erscheinung des heutigen Lebens, hat es immer gegeben, aber sie ist zu ihrem grauenvollen guten Gewissen erst als eine Folge der allgemeinen Arbeitsteilung gelangt, und als solche besitzt sie auch etwas von deren großartiger Unvermeidlichkeit. Es widerstrebte Ulrich, sich schlechtweg über sie zu entrüsten, und erregte zum Trotz das komische und angenehme Gefühl in ihm, das eine Hundertkilometergeschwindigkeit bereitet, wenn ein bestaubter Moralist am Wege steht und schimpft. Als Arnheim schwieg, sagte er darum zuerst: »Jede Form der Arbeitsteilung läßt sich entwickeln. Die Frage, die Sie mir stellen dürfen, ist also n icht, ob ich ‚abscheulich finde‘, sondern ob ich glaube, daß man zu würdigeren Zuständen gelangen könne, ohne umkehren zu müssen!«
»Ihre Generalinventur!« schaltete Arnheim ein. »Wir haben die Teilung der Tätigkeiten ausgezeichnet organisiert, dabei aber die Instanzen für die Zusammenfassung vernachlässigt; wir zerstören die Moral und die Seele fortwährend nach den neuesten Patenten und glauben sie mit den alten Hausmitteln der religiösen und philosophischen Überlieferung zusammenhalten zu können! Ich spotte nicht gerne in dieser Weise« verbesserte er sich »und halte Witz ganz allgemein für etwas sehr Zweideutiges; aber ich habe den Vorschlag, den Sie in unserer Gegenwart Graf Leinsdorf gemacht haben, daß man das Gewissen neu organisieren solle, auch niemals bloß für einen Scherz gehalten!«
»Es war einer« erwiderte Ulrich schroff. »Ich glaube nicht an die Möglichkeit. Eher bilde ich mir noch ein, daß der Teufel die europäische Welt aufgebaut hat und Gott seinen Konkurrenten zeigen lassen will, was er kann!«
»Eine hübsche Idee!« sagte Arnheim. »Aber warum haben Sie sich dann über mich geärgert, als ich Ihnen nicht glauben wollte?«
Ulrich antwortete nicht.
»Was Sie soeben sagten, steht auch in Widerspruch zu der sehr unternehmenden Äußerung über das Verfahren, wie wir uns einem richtigen Leben nähern könnten, die Sie eine Weile früher getan haben« fuhr Arnheim still und hartnäckig fort. »Überhaupt fällt mir auf, ganz abgesehen davon, ob ich Ihnen im einzelnen zustimmen kann oder nicht, wie sehr sich in Ihnen tätige Neigungen und Gleichgültigkeit mischen.«
Als Ulrich auch darauf eine Antwort nicht nötig fand, sagte Arnheim so höflich, wie es einer Ungezogenheit gegenüber das richtige ist: »Ich habe nur Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken wollen, wie sehr man sich heute bei wirtschaftlichen Entscheidungen, von denen ohnehin beinahe alles abhängt, auch noch die moralische Verantwortung selbst zurechtlegen muß und wie fesselnd sie dadurch werden.« Es
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