Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
Vom Netzwerk:
immer mittelmäßiger wird, so erklärt das ja, warum trotz der tausendfältigen Möglichkeiten, die wir vor uns hätten, der gewöhnliche Mensch nun einmal der gewöhnliche ist! Und es erklärt auch, daß es selbst unter den bevorzugten Menschen, die sich durchsetzen und zu Anerkennung kommen, eine gewisse Mischung gibt, die ungefähr 51% Tiefe und 49% Seichtheit hat und den meisten Erfolg findet, und das erschien Ulrich schon seit langem so verwickelt sinnlos und unerträglich traurig, daß er gerne weiter darüber nachgedacht haben würde.
    Er wurde davon gestört, daß Bonadea noch immer kein Zeichen ihres Fertigseins gab; vorsichtig durch die Türe spähend, gewahrte er, daß sie sich im Ankleiden unterbrochen hatte. Sie fand Zerstreutheit, wenn es sich um die letzten Tropfen der Köstlichkeit des Beisammenseins handelte, unfein; gekränkt von seinem Schweigen, wartete sie ab, was er tun werde. Sie hatte ein Buch genommen, und glücklicherweise enthielt es schöne Abbildungen aus der Geschichte der Kunst.
    Ulrich fühlte sich, als er wieder seine Betrachtungen aufnahm, durch dieses Warten gereizt und geriet in eine unbestimmte Ungeduld.

30

Ulrich hört Stimmen
    UND PLÖTZLICH ZOGEN sich seine Gedanken zusammen, und als ob er durch einen entstandenen Riß blickte, sah er Christian Moosbrugger, den Zimmermann, und seine Richter.
    Quälend lächerlich für einen Menschen, der nicht so denkt, sprach der Richter: »Warum haben Sie sich die blutigen Hände abgewischt? – Warum haben Sie das Messer weggeworfen? – Warum haben Sie nach der Tat frische Kleider und Wäsche angezogen? – Weil es Sonntag war? Nicht, weil sie blutig waren? – Weshalb sind Sie am Abend darauf zu einer Tanzunterhaltung gegangen? Die Tat hat Sie also nicht gehindert, das zu tun? Haben Sie überhaupt keine Reue empfunden?«
    In Moosbrugger erwacht ein Flackern: alte Zuchthauserfahrung, man müsse Reue heucheln. Das Flackern verzieht Moosbruggers Mund, und er spricht: »Gewiß!«
    »Bei der Polizei haben Sie aber gesagt: Ich empfinde keine Reue, sondern nur Haß und Wut bis zum Paroxysmus!« hakt der Richter sofort ein.
    »Möglich« sagt Moosbrugger, wieder fest werdend und vornehm. »Möglich, daß ich damals keine anderen Empfindungen hatte.«
    »Sie sind ein großer, starker Mann,« fällt der Staatsanwalt ein »wie konnten Sie sich vor der Hedwig fürchten!«
    »Herr Gerichtsrat,« antwortet Moosbrugger lächelnd »sie war schmeichelhaft geworden. Ich stellte sie mir noch grausamer vor, als ich derlei Weiber sonst einschätze. Ich sehe wohl kräftig aus, bin es auch –«
    »Nun also« brummt der Vorsitzende, im Akt blätternd.
    »Aber in gewissen Situationen« sagt Moosbrugger laut »bin ich ängstlich und sogar feig.«
    Die Augen des Vorsitzenden schnellen aus dem Akt; wie zwei Vögel einen Ast, verlassen sie den Satz, auf dem sie soeben gesessen haben. »Damals, als Sie mit Ihren Kollegen auf dem Bau Streit bekommen haben, sind Sie aber gar nicht feig gewesen!« sagt der Vorsitzende. »Den einen haben Sie zwei Stock tief hinunter geworfen und die andern mit dem Messer –«
    »Herr Präsident,« ruft Moosbrugger mit gefährlicher Stimme »ich stehe heute noch auf dem Standpunkt –«
    Der Vorsitzende winkt ab.
    »Unrecht,« sagt Moosbrugger »das muß als Grundlage meiner Brutalität dienen. Ich bin als naiver Mensch vor Gericht gestanden und habe gedacht, die Herren Richter werden ohnehin alles wissen. Aber man hat mich enttäuscht!«
    Das Gesicht des Richters steckt längst wieder im Akt.
    Der Staatsanwalt lächelt und sagt freundlich: »Aber die Hedwig war doch ein ganz harmloses Mädchen!«
    »Mir erschien sie nicht so!« erwidert Moosbrugger, immer noch aufgebracht.
    »Mir scheint,« schließt der Vorsitzende mit Nachdruck »daß Sie immer anderen die Schuld zu geben wissen!«
    »Also warum haben Sie auf sie losgestochen?« fängt der Staatsanwalt freundlich von vorne an.

31

Wem gibst du recht?
    DAS WAR aus der Verhandlung, der Ulrich beigewohnt hatte, oder bloß aus den Berichten, die er gelesen hatte? Er erinnerte sich jetzt so lebhaft, als würde er diese Stimme hören. Er hatte noch nie in seinem Leben »Stimmen gehört«; bei Gott, so war er nicht. Aber wenn man sie hört, so senkt sich das etwa so herab wie die Ruhe eines Schneefalls. Mit einemmal stehn Wände da, von der Erde bis in den Himmel; wo früher Luft gewesen ist, schreitet man durch weiche dicke Mauern, und alle Stimmen, die im Käfig der Luft von einer

Weitere Kostenlose Bücher