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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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ruhende Gebiete der Seele packend, während sein Fall in den Provinzstädten schon eine gleichgültigere Neuigkeit bedeutete und in Berlin oder Breslau gar nichts mehr, wo man von Zeit zu Zeit seine eigenen, die Moosbruggers der eigenen Familie hatte? Dieses fürchterliche Spiel der Gesellschaft mit ihren Opfern beschäftigte Ulrich. Er fühlte es in sich selbst wiederholt. Kein Wille zuckte in ihm, weder um Moosbrugger zu befrein, noch um der Gerechtigkeit beizuspringen, und das Gefühl sträubte sich wie das Haar einer Katze. Moosbrugger ging ihn durch etwas Unbekanntes näher an als sein eigenes Leben, das er führte; er ergriff ihn wie ein dunkles Gedicht, worin alles ein wenig verzerrt und verschoben ist und einen zerstückt in der Tiefe des Gemüts treibenden Sinn offenbart.
    »Schauerromantik!« warf er sich ein. Das Schaurige oder Unerlaubte in der zugelassenen Gestalt von Träumen und Neurosen zu bewundern, schien ihm recht zu den Menschen der Bürgerzeit zu passen. »Entweder oder!« dachte er. »Entweder du gefällst mir oder nicht! Entweder ich verteidige dich in all deiner Scheusäligkeit, oder ich sollte mich ins Gesicht schlagen, weil ich mit ihr spiele!« Und schließlich wäre sogar auch ein kühles, aber tatkräftiges Bedauern wohl am Platz; es ließe sich heute schon eine Menge tun, um solche Vorkommnisse und Gestalten zu verhüten, wenn die Gesellschaft nur die Hälfte der moralischen Anstrengung selbst aufwenden wollte, die sie von solchen Opfern verlangt. Aber dann ergab sich auch noch eine ganz andere Seite, von der sich die Angelegenheit betrachten ließ, und merkwürdige Erinnerungen stiegen in Ulrich auf.
    Niemals ist unser Urteil über eine Tat ein Urteil über jene Seite der Tat, die Gott lohnt oder straft: das hat, sonderbar genug, Luther gesagt. Wahrscheinlich unter dem Einfluß eines der Mystiker, mit denen er eine Zeitlang befreundet war. Sicher hätte es auch mancher andere Gläubige sagen können. Sie waren, im bürgerlichen Sinn, alle Immoralisten. Sie unterschieden zwischen den Sünden und der Seele, die trotz der Sünden unbefleckt bleiben kann, fast ähnlich wie Machiavell zwischen dem Zweck und den Mitteln unterscheidet. Das »menschliche Herz« war ihnen »genommen«. »Auch in Christus war ein äußerer und ein innerer Mensch, und alles, was er in Bezug auf äußere Dinge tat, tat er vom äußeren Menschen aus, und stand dabei der innere Mensch in unbeweglicher Abgeschiedenheit« sagt Eckehart. Solche Heilige und Gläubige wären am Ende imstande gewesen, sogar Moosbrugger freizusprechen!? Wohl ist die Menschheit fortgeschritten seither; aber wenn sie Moosbrugger auch töten wird, hat sie doch noch die Schwäche, jene Männer zu verehren, die ihn, wer weiß, freigesprochen haben würden.
    Und nun kam Ulrich ein Satz in Erinnerung, dem eine Welle von Unbehagen voranging. Dieser Satz lautete: »Die Seele des Sodomiten könnte mitten durch die Menge gehn, ohne etwas zu ahnen, und in ihren Augen läge das durchsichtige Lächeln eines Kindes; denn alles hängt von einem unsichtbaren Prinzip ab«. Das war nicht viel anders als die ersten Sätze, aber es strömte in seiner kleinen Übertriebenheit den süß schwächlichen Geruch der Verdorbenheit aus. Und wie es sich zeigte, gehörte ein Raum zu diesem Satz, ein Zimmer mit gelben französischen Broschüren auf den Tischen, mit Vorhängen aus geknüpften Glasstäbchen anstelle der Türen, – und ein Gefühl entstand in der Brust, wie wenn eine Hand in eine geöffnete Hühnerleiche greift, um das Herz herauszuziehn: Denn diesen Satz hatte Diotima bei seinem Besuch von sich gegeben. Er stammte noch dazu von einem zeitgenössischen Schriftsteller, den Ulrich in jungen Jahren geliebt, aber seither für einen Salonphilosophen halten gelernt hatte, und Sätze wie dieser schmecken so schlecht wie Brot, auf das Parfum ausgegossen wurde, so daß man jahrzehntelang mit alledem nichts mehr zu tun haben mag.
    Aber so lebhaft auch die Abneigung war, die dadurch in Ulrich erregt wurde, kam es ihm in diesem Augenblick doch schmählich vor, daß er sich sein Leben lang hatte abhalten lassen, zu den anderen, den echten Sätzen jener geheimnisvollen Sprache zurückzukehren. Denn er hatte ein besonderes, ein unmittelbares Verständnis für sie, eher noch eine Vertrautheit zu nennen, die das Verstehen übersprang; doch ohne daß er sich je hätte entschließen können, sich ganz zu ihnen zu bekennen. Sie lagen – solche Sätze, die ihn mit einem Laut

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