Nichts Weißes: Roman (German Edition)
Kleiner Schrei
Sie schläft, und sie träumt, dass sie schläft. Sie muss nichts tun, und sie kann nichts tun. Es ist nicht auszumachen, ob sie gefesselt ist oder ob sie schwebt. Und wer da singt, welcher Chor da singt, den immergleichen Akkord ohne Pausen. Die Zeit steht still, das Schicksal hebt die Schultern und lässt sie wieder sinken. Alle Welt flüstert.
Ihr Gesicht ist schmal, aber nicht klein, man ahnt die Knochen. Die Schläfen haben einen hellen Schimmer. Ihre Nase zeigt spitz in den Himmel der Kabine. Aus dem Gedächtnis gezeichnet, würde man ihr einen schmalen Mund andichten. In der Tat hat sie helle, rotblaue Lippen von feiner Gestalt, konturiert von einem scharfen Zug, links mehr als rechts, obwohl rechts verdeckt ist durch das Kissen. Man sieht ihr die Anstrengung an, wenn man weiß, dass sie erst fünfundzwanzig ist. Wenn wir könnten, würden wir sie berühren.
Berühren, durchaus. So wie der Junge im Sitz neben ihr, der seinen Arm nach ihr ausstreckt, die Hand schon ihre Wange nachformend, dann zögert. Er streichelt sie nicht. Er lässt sich zurückplumpsen in den Sitz und schaut sich um. In seinen braunen Augen spiegelt sich die Welt, zweimal. Er wacht über sie, die schläft.
Es ist November, der Tag in die Länge gezogen, die Fensterluken weiß überblendet, kaum merklich der Eintritt in den nordamerikanischen Kontinent.
Sie verlassen das Leben, das sie kennen, und beginnen ein anderes. Davon träumt die junge Frau nicht. Sie träumt, dass sie schläft. In der einen Hälfte ihres Kopfes ist alles aufbewahrt, was sie gewollt hat, in der anderen das, was jenseits ihrer Vorstellung liegt. Die Schatten ziehen von hier nachdort. Sie, die träumt, weiß genau, was es war, das sie gewollt hat. Aber es verdunkelt sich. Bald wird man es nicht mehr erkennen können.
Der Junge betrachtet jeden, der sie anschaut. Jeder, der sie anschaut, hat die Augen des Jungen auf sich. Der Mann ganz rechts in der mittleren Sitzreihe, der seit Roissy die Akte liest. Die Frau mit dem roten Punkt auf der Stirn. Die Stewardess, die sich vielleicht Sorgen macht. Der Fette mit den roten Hosenträgern und den buschigen Augenbrauen, der jede Stunde zweimal vorbeikommt, mit einem Glas in der Hand auf dem Rückweg.
Jeder sieht, was sie nicht ist. Sie ist keine Diva, da kann man sicher sein, kein Mädchen, nicht mehr oder nie gewesen. Schwerer fällt es zu raten, wer sie sei. Sie ist Mutter, aber das weiß man nur, weil der Junge auf sie aufpasst. Sie ist doppelt abwesend, während sie träumt, dass sie träumt. Man weiß nicht, warum man zu ihr hinschauen muss. Aber man tut es.
Suchte man später nach Zeugen, würde sich ein Dutzend finden lassen. Da käme einer, der würde sagen, es habe in der mittleren, der fensterlosen Reihe eine Frau gesessen, eine Frau mit Haaren wie Gräser, die Augen eher hell mit grünen oder taubenblauen Spuren, was man gegen Morgen habe sehen können, als das Frühstück gebracht wurde. Eine, die sich nicht schminkt während so einer Reise, vielleicht nie. Weil es darauf nicht ankommt. Umso mehr habe man sie im Vorübergehen anschauen müssen, ja, er sei versucht gewesen, ihre Worte abzulauschen, Flämisch, würde der Anwalt aus Philadelphia sagen, oder Deutsch, wobei der Junge nicht unbedingt dieselbe Sprache gesprochen habe wie seine Mutter. Sie sei der Typ von Frau gewesen – obwohl »Typ« auch nicht ganz passe –, würde der Whiskytrinker sagen, den man zu kennen meint. Vielleicht aus einem Film oder von Bildern oder aus einem Cartoon, in dieser Weise. Man habe, wenn man sieansah, sich zu erinnern versucht, für welche Geschichte sie stehe. Eine Geschichte, die man zwar kenne, aber durchaus noch einmal würde hören wollen. Überhaupt hätte man gern mit ihr gesprochen, etwas von ihr bekommen, einen Blick, zum Beispiel, oder ihr etwas gegeben, für das sie sich bedankt hätte, und wäre es im Namen des Jungen gewesen, Antoine, so rief sie ihn, als er sich auf dem Gang entfernte. Und war einer, der so hieß, nicht immer ein Held der Luftfahrt? Der Flug jedenfalls, von CDG nach JFK, verlief ohne jede Störung. Eine Boeing, die vom Himmel fällt: Eine solche Geschichte war Marleens nicht.
Einmal, würde die Frau mit dem roten Punkt sagen, die über Nova Scotia langsam im Gang auf und ab ging, habe die Mutter des Jungen einen kleinen Schrei von sich gegeben, einen kurzen, hellen und nicht sehr lauten Schrei, woraufhin der Junge nach ihr gegriffen habe. Vielleicht hatte sie schlecht
Weitere Kostenlose Bücher