Der Mann schlaeft
Geschichte war gelogen. Ap Lai Chau, alles eine Lüge, nur die komische Esoteriknummer und der eine reiche Freier ist die Wahrheit gewesen. Meine Mutter arbeitet seit einem Autounfall, da war ich sechs, und seit sie im Rollstuhl sitzt als Hure auf der Insel. Vorher fuhr sie in die Stadt, wo sie als Sekretärin arbeitete, aber sie wurde entlassen. Als ich sechseinhalb war, gab mich meine Mutter zu meinem Großvater, damit sie ungestört arbeiten konnte. Seitdem sehe ich sie nur an unseren offiziellen Besuchstagen am Wochenende.Wir treffen uns bei dem alten Haus, das ich Ihnen gezeigt habe. Meine Mutter meint, es sei nicht gut fürs Geschäft, wenn die Männer wüssten, dass sie ein Kind hat. Ich glaube, das ist gelogen, denn jeder hier auf der Insel weiß Bescheid über mich. All die Frauen hassen meine Mutter, denn sie ist die Einzige in ihrer Berufsgruppe auf der Insel, und fast jeder erwachsene Mann hier hat schon einmal mit ihr verkehrt. Erstaunlicherweise scheint es eher von Vorteil, dass sie querschnittsgelähmt ist. Für alle hier bin ich die Tochter der Nutte, und mein Opa ist ihr Vater. An manchen Abenden ist Mutter so betrunken oder voller Tabletten, dass sie bei uns Hilfe sucht, so wie vorhin, oder an jenem Tag, als wir uns kennenlernten. Ich versuche dann wirklich, ein liebevolles Gefühl für sie zu entwickeln, aber das gelingt mir nicht. Meine Mutter hat mich so oft enttäuscht, dass da nichts Freundliches mehr ist in mir. Ich habe mich an den Zustand gewöhnt, aber als Sie auftauchten, merkte ich, dass es angenehm ist, mit einer älteren Frau als mir zusammen zu sein.«
Kurz bevor wir in die Wohnung gelangten, war ich mir fast sicher in meinem Entschluss, auf der Insel zu bleiben. Es hatte den Anschein, dass zwei Menschen mich brauchten, was immerhin mehr war als einer, ich, der mich nicht brauchen konnte. Ich würde hierbleiben und abwarten. Dass ich eine neue Idee bekomme, einen neuen Menschen finde, der mich noch mehr benötigt, dass ich alt werde, sterbe. Einfach warten. Denke ich an mein altes Zuhause, so ist dort nichts, was ich vermissen werde. Außer den Gedanken an den Mann. Ich war von einer Art Freude erfüllt, die ich seit Wochen nicht mehr in mir beobachtet habe, ich hatte einen Entschluss gefasst und erwartete fast, dass beim Betreten der Wohnung eingoldenes Licht scheinen würde und Fanfaren erklängen. Doch dann stand ich in der Wohnung, sah den Masseur, der schweigend einen Kunden bediente. Sah mein Zimmer, das ich von da an vermutlich einige Jahre bewohnen würde, und in mir wurde alles still, als wäre ich eingeschneit innerhalb Sekunden. So, das ist es also, dachte ich, als ich auf meiner Terrasse saß. Es würde so werden, wie ich es mir vor kurzem vorgestellt hatte. Ich würde ein Teil der Insel werden, mit ein paar westlichen Bekannten eventuell. Ich würde einen Computer in mein Zimmer stellen und arbeiten. Abends kochen, was ich nicht kann, der Masseur und Kim wären zu höflich, um sich zu beklagen. Ich würde alt werden und still, ich würde Tee trinken und aus dem Fenster sehen. Mein Leben würde ebenso ereignislos und unwichtig verstreichen wie das Milliarden anderer, nur würde ich darum wissen. Ich würde mich irgendwann damit trösten, dass ich wenigstens für vier Jahre erfahren hatte, wie es anders sein konnte. Bevor ich den beiden meinen Entschluss mitteilte, wollte ich jedoch noch einen Abschied nehmen. Von allem, was ich bisher gewesen war.
Ich sagte Kim, dass ich bald wiederkommen würde, verließ das Haus, holte mir im Laden gegenüber eine Flasche absurd teuren französischen Weißwein und ging zum Bootsanleger.
Jetzt.
Abend.
Die Sonne steht einen Zentimeter über dem Meer. Die Reste meines Hirns schwimmen in französischem Weißwein, der Mund steht offen, jede Körperspannung hat sich mit dem Alkohol gelöst. Ich fühle mich wie ein Präparat. Ein Klumpen organischen Gewebes hockt am Pier. Die Farbe des Himmels verändert sich von Gelb zu giftigem Orange. Hinter mir murmeln meine neuen Nachbarn, und ich nehme noch einen Schluck, um die unglaubliche Langeweile zu vergessen, die die Anstrengung, sein Leben zu gestalten, mit sich bringt. Man kann versuchen, ein paar Grundlagen zu schaffen. Wenn man in der luxuriösen Lage ist, selbst zu entscheiden, kann man sich einen Ort suchen, der einem zusagt, einen Beruf, der einem die Zeit, die man mit ihm zubringt, vergessen lässt. Man kann das Glück haben, gesund zu sein und mental in einem akzeptablen Zustand. Doch
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