Der Mann von Nebenan
gefaßten grünen Stein.
»Was ist hier eigentlich los?« fragte Kate.
»Der hat mir mein Fahrrad geklaut!«
Anklagend zeigte Samuel auf den Jungen. Sein Rennrad! Sein Allerheiligstes! Bernds Geschenk zum zwölften Geburtstag, das Samuel am liebsten jeden Abend mit ins Bett nehmen würde.
»Quatsch! Ich hab’s mir nur mal angesehen!« verteidigte sich der andere Junge.
»Stimmt nicht, du bist ja schon draufgesessen!« schrie Samuel.
»Na, und? Deshalb habe ich’s noch lange nicht geklaut!«
Die zwei Streithähne waren im Begriff, sich wieder aufeinanderzustürzen.
»Jetzt reicht’s aber!« sagte die Frau und griff ins Getümmel. Anstatt, wie Kate erwartet hatte, ihren eigenen Sohn herauszuziehen, hielt sie plötzlich Samuel am Schlafittchen.
»Du hörst jetzt auf!« befahl sie.
Kates Mutterinstinkt regte sich. »Moment mal, Ihr Sohn hat schließlich Samuels Fahrrad genommen«, protestierte sie.
»Und das ist ein Grund, gleich draufloszuprügeln? Wer sind Sie überhaupt, und was haben Sie in Nellis’ Haus verloren?« Die Frau starrte Kate feindselig an.
»Ich … äh …«, begann Kate, aber sie wurde gleich unterbrochen.
»Ach was, ist mir doch völlig egal. Am besten, Sie hauen ganz schnell wieder ab!«
Na, das fing ja gut an. Kate war kurz davor, zurückzuschnauzen, besann sich aber eines Besseren. Sie wollte keinen Streit.
Beide Frauen packten ihre Söhne und zogen sie in entgegengesetzte Richtungen davon. Die beiden Jungen streckten sich die Zunge raus und riefen sich Unflätigkeiten nach.
»Mußte das sein?« fragte Kate ärgerlich, als sie wieder im Haus waren. »Wir wohnen jetzt hier. Wir müssen mit den Leuten zurechtkommen, sonst wird es die Hölle.«
»Es wird sowieso die Hölle«, murmelte Samuel verstockt.
»Hör schon auf, du wirst dich ganz schnell einleben. Und zum Fahrradfahren gibt’s keine bessere Gegend!«
Mit diesem Argument hatte sie Samuel den Umzug aufs Land schmackhaft gemacht. Wochenlang hatten sie diskutiert, wo sie in Zukunft leben wollten. Kate wollte weg aus der Stadt, Samuel wollte bei seinen Freunden bleiben. Nur die Aussicht auf paradiesische Radfahrbedingungen hatte ihn schließlich zum Nachgeben gebracht.
»Kann ich den Schuppenschlüssel haben?« fragte Samuel.
»Was willst du im Schuppen?«
In Gedanken hatte Kate den robusten Holzverschlag bereits belegt; sie würde ihre Werkstatt dort einrichten.
»Mein Rad reinstellen.«
Sie gab ihm den Schlüssel.
»Willst du nicht frühstücken? Ich habe Cornflakes gesehen. Milch ist auch da.«
Er schüttelte den Kopf, daß seine rotblonden Locken flogen.
Als kleiner Junge hatte er ausgesehen, wie von Botticelli gemalt. Neulich hatte Kate ihn gerade noch davon abhalten können, die Lockenpracht abzuschneiden. Jetzt züchtete er sich Dreadlocks.
Vor seiner Pubertät hatte sie sich immer gefürchtet. Und ausgerechnet jetzt, wo diese schwierige Zeit begann, war sie alleine für ihn verantwortlich. Keiner da, mit dem sie hätte reden können.
Nur ein gutes Jahr lag es zurück, daß Samuel, Bernd und sie eine glückliche Familie gewesen waren. Jedenfalls hatte Kate das damals gedacht. Erst in den letzten Monaten war ihr klargeworden, wie verzweifelt sie sich an ein Wunschbild geklammert hatte, das der Wirklichkeit längst nicht mehr entsprach.
Bernd und sie hatten im Lauf der Jahre begonnen, völlig eigene Leben zu leben. Die Tatsache, daß er jeden Abend in die gemeinsame Wohnung zurückkehrte, hatte ihr als Beleg für eine funktionierende Ehe gegolten. Ihr hatte nichts gefehlt; jedenfalls hatte sie nicht bemerkt, daß ihr irgend etwas fehlte.
Und nun war sie eine geschiedene Frau.
Ein freundlich eingerichteter Verhandlungsraum.
Sie mit Anwalt, Bernd mit Anwältin. Sie sitzen gemeinsam an einem Tisch, als handele es sich um ein geselliges Beisammensein. Die Anwälte tauschen ein bißchen Anwaltsklatsch, man kennt sich. Der Richter tritt ein, man erhebt sich, nimmt wieder Platz. Die Anwesenheit der Parteien und ihrer Rechtsvertreter wird festgestellt, verschiedene Dokumente werden zu Protokoll gegeben. Nachdem der Richter die Zerrüttung der Ehe festgestellt hat ( »der letzte Geschlechtsverkehr liegt mehr als ein Jahr zurück« ) verliest er die Scheidungsvereinbarung. Noch Fragen? Allgemeines Kopfschütteln.
Stummes Aufbegehren in Kate. Noch Fragen? Allerdings. Aber der Proteststurm in ihr fällt in sich zusammen, wird zur lächerlichen kleinen Windhose, verebbt schließlich ganz. Nein, keine Fragen
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