Der Mann zweier Welten
fuhr Nelan fort. »Unsere Stellung müßte uns eigentlich höchste Anerkennung bringen. Wir verdienen viele Bequemlichkeiten und Freiheiten, die wir nicht bekommen.«
»Das stimmt.« Eine andere ältere Frau nickte. »Matra hat sich nie sehr viel um unser Wohlergehen gekümmert. Sie nahm es nur mit der Pflichterfüllung sehr genau. A ber wir hatten kaum ein Eigenleben.«
»Wir sind ja auch für Pflichterfüllung«, meinte Nelan. »Aber wir haben doch ein Recht auf Leben. Und es gibt einen Weg, zu diesem Recht zu kommen.«
Ketan fragte sich, was sie noch mehr wollten. Im Tempel herrschte größerer Wohlstand als irgendwo sonst. Worauf wollten sie hinaus?
»Wir brauchen eure Hilfe, die Hilfe der jungen Diene rinnen«, wandte sich eine direkt an Ketan. »Ihr müßt A netel unterstützen.«
»Wovon sprecht ihr eigentlich?« fragte Ketan.
»Matra ist alt«, erklärte Nelan. »Sie wird bald sterben. Eine von uns muß sich auf die Nachfolge vorbereiten. Die meisten haben sich für Anetel entschieden. Sie wird eine neue Zeit für uns bringen. Die Neugeborenen werden fähiger als bisher in Kronweld auftauchen. Und Anetel wird dafür sorgen, daß auch unser Rang anerkannt wird. Wir werden bessere Wohnräume und mehr Freiheit haben. Klingt das nicht verlockend?«
»Sehr verlockend«, sagte Ketan.
Sie lächelte. »Dann wirst auch du Anetel unterstützen?«
»Ja.«
Idealismus! Das Wort fiel Ketan immer wieder ein. So war es also um den heiligen Tempeldienst bestellt. Und das waren die aufopfernden, selbstlosen Tempeldienerinnen, die sich in Cliquen zusammenrotteten und um kleine Vorrechte kämpften.
Ketan hatte noch nie mit Anetel gesprochen. Nur einmal hatte er sie im Korridor gesehen – eine große Frau mit feinem, blondem Haar. Sie konnte wunderbar mit den Neugeborenen umgehen. Und ihre scheinbare Kühle verging sofort, wenn sie zu sprechen anfing. Sie beruhigte die Anfängerinnen, die durch Matras Alter und Strenge schüchtern wurden.
Ketan konnte sie von Anfang an nicht leiden. Er wunderte sich, weshalb Matra nichts gegen sie unternahm. Anetel hatte überall ihre Spioninnen.
Aber wenn er an Matras scharfe Augen dachte, konnte er nicht glauben, daß sie aus Schwäche alles so laufen ließ.
*
In scheinbar endlosen Tagen lernten die Neuankömmlinge ihre Routinepflichten kennen. Ketan fand es amüsant, die winzigen Geschöpfe zu verpflegen. Er überlegte manchmal, was die anderen Sucher oder Daran sagen würden, wenn sie ihn so sähen.
Dann erinnerte er sich, daß Daran tot war. Er wußte, daß er bald zu einer Entscheidung kommen mußte. Seine Verkleidung begann sich abzunutzen.
Er wartete nur noch, bis er an die Reihe kam, in der Geburtskammer zu wachen. Denn in diesem kleinen Raum befand sich die Lösung. Er hielt sich für ruhig, aber als er erfuhr, daß er am nächsten Tag die Wache haben sollte, klopfte sein Puls doch schneller.
Hoffentlich war seine Begleiterin nicht zu aufdringlich. Daß er mit Elta zusammentreffen würde, wagte er nicht zu hoffen.
Und doch war es so.
Sie stand am Eingang zur Kammer und sah ihn ungläubig an.
»Elta …«, flüsterte er. »Das habe ich nicht erwartet.«
Sie sah ihn müde an. »Warum mußtest es gerade du sein?«
»Freust du dich nicht, daß wir eine Zeitlang allein sind?«
»Nein – hör mir zu, Ketan.« Ihre Stimme war ängstlich. »Ich kam aus einem ganz bestimmten Grund hierher. Willst du mir wenigstens diesmal vertrauen?
Vielleicht gelingt es mir, den Tempel zu vernichten. Das ist doch auch dein Wunsch. Aber du mußt mich hier allein lassen. Geh zurück in dein Zimmer. Niemand wird dich sehen. Wenn ich fertig bin, komme ich zu dir zurück. Wir können uns ins Freie kämpfen. Denn ich habe entdeckt, wo viele Waffen aus Nachtland gelagert werden. Kannst du das für mich tun?«
»Nein.«
»Ketan …«
»Nein, Elta. Ich lasse dich nicht mit diesen wahnsinnigen Plänen allein. Ich weiß nicht, weshalb du hierher kamst, aber ich habe auch Pläne, und sie sind sehr wichtig.«
»Ich habe mit Matra gesprochen. Sie ist einverstanden …«
Ketan starrte sie an. Was sollte er glauben? Matra hatte von ihm Eltas Tod verlangt. Was wollte Elta tun?
»Ich kann es nicht glauben«, sagte er. »Die Zerstörung des Tempels ist unmöglich, wenn wir nicht zuerst das Geheimnis dieser Kammer lösen. Wie kann hier Leben entstehen? Das muß ich herausfinden.«
»Niemand im Tempel weiß es«, murmelte Elta. »Spiel nicht mit Kräften, die über den menschlichen
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