Der Marktmacher
in meinem Leben. Sogar die Haare hatte ich mir schneiden lassen.
Ich kurvte durch die City und weiter zur Commercial Road. Rechts ragte hoch und weiß der Canary Wharf Tower auf. Weit erhob er sich über die Textil- und Gewürzl ä den von Limehouse, ein solider weißer Quader, der sich im Dunst verlor. Durch die Schwaden flimmerte weit oben ein einsames, verlorenes Licht. Dort würde ich mich gleich befinden und London aus der Vogelperspektive betrachten. Ich fragte mich, ob man von dort oben die School of Rus s ian Studies sah.
Innerlich stöhnte ich auf bei der Erinnerung an mein letztes Zusammentreffen mit dem Dekan Russell Church. Wütend war er, als ich ihm mitteilte, daß ich meine Lehrtätigkeit beenden wollte. Doch bevor ich nicht meinen Do k tor gemacht hatte, wozu ich noch mindestens ein halbes Jahr brauchte, konnte er mir keine feste Anstellung ve r sprechen, und selbst dann sah es nicht sehr rosig aus. Es tat mir leid, daß ich ihn enttäuscht hatte, aber mir blieb keine andere Wahl. So konnte es nicht weitergehen.
Als ich jetzt die Westferry Road hinunterradelte und die Ruinen des Eastends hinter mir lagen, fühlte ich mich besser. Zu beiden Seiten hatte ich jetzt Wasser, auf der e i nen die Themse bei Hochwasser und auf der anderen das West India Dock. Vor mir lag der glitzernde Canary-Wharf-Komplex mit seinem riesigen Turm, der von einer dicken Mauer kleinerer, aber immer noch stattlicher Bürogebäude umgeben war. Plötzlich wurde alles sauber und ordentlich, von den gepflegten Rasenflächen und Blumenbeeten des Westferry Circus bis zu den frisch gestr i chenen blauen Kränen, die wie schwere Geschütze die Zufahrten zum Kai bewachten. Links glitt ein führerloser Zug auf dem erhö h ten Gleis der Docklands Light Railway lautlos in einen Bahnhof, der fünfzehn Meter über dem Wasser lag.
An der Sicherheitskontrolle vorbei fuhr ich in die Tiefgarage, deren eine Ecke von Dekker Ward angemietet wo r den war. Ich fragte den Parkwächter, wo ich mein Fahrrad abstellen konnte. Er wies auf einen Pulk Motorr ä der: eine Harley -D avidson und drei BMWs. Die Garage wurde von einer weiteren großen Investmentbank mitb e nutzt, und die Plätze waren bereits zur Hälfte von den Wagen der Investmentbanker belegt. Fast ausschließlich deu t sche Fabrikate – Mercedes, Porsche und BMW. So massiert auftretend, verrieten sie einen erstaunlichen Mangel an Phantasie, ein Eindruck, der nur durch eine schwarze, flach geschwung e ne Corvette und einen roten Ferrari Testarossa etwas g e mildert wurde. Ich verzichtete darauf, mein Fahrrad anz u ketten. Wenn mich nicht alles trog, würde es hier nicht g e klaut werden: eine schäbige Gla s scherbe unter kostbaren Juwelen.
Über eine Treppe gelangte ich in den Hof zu Füßen des Turms. Auch hier war alles sehr gepflegt: eine Reihe kle i ner Bäume, frisch aus der Baumschule, in der Mitte ein plä t schernder Brunnen, saubere Mäuerchen, Bänke aus Ede l holz. Zweihundertvierzig Meter ragte der Turm vor mir in den Himmel, immer noch verschleiert vom Nebel und dem Dampf, der aus Rohren unmittelbar unter der Spitze quoll. Selbst um diese Stunde sah man schon einige Menschen. Sie tröpfelten aus dem Eingang des Bahnhofs, aus der Tiefgarage und aus einer Prozession von Taxis, um in den massig hingelagerten Gebäuden an den Ecken des Platzes oder, wie ich, im Zentralgebäude von Canary Wharf zu verschwinden.
Nervös durchquerte ich die ultramoderne Vorhalle mit den typischen Läden der achtziger Jahre – Blazer, City Organiser, Birleys, eine Sushi-Bar – und betrat die braune Marmorhalle des One Canada Square. Ich hatte einen Au f zug ganz für mich allein, ließ mich die vierzig Stockwerke nach oben katapultieren und betrat den Dekker-Ward-Korridor.
Am Empfang nahm ich auf der Kante eines schwarzen Ledersofas Platz und wartete auf Jamie, während mich hin und wieder neugierige Blicke der gepflegten blonden Empfangsdame streiften. Es dauerte nicht lange, dann kam er heraus, streckte mir die Hand entgegen und grinste breit. Auf seinem Schlips tummelten sich weiße Kaninchen. »Du hast es tatsächlich geschafft? Hätte ich nicht gedacht. Bist du den ganzen Weg mit dem Fahrrad gekommen?«
»Klar.«
Er musterte mich von oben bis unten. »Hübscher Anzug. Hoffentlich hast du den alten weggeschmissen. Mit der nötigen Vorsicht natürlich! War bestimmt Sondermüll.«
»Ich behalte ihn. Aus sentimentalen Gründen. Im übrigen ist er wahrscheinlich das einzige hier, was
Weitere Kostenlose Bücher