Der Marschenmörder
Dorfgendarm Ahrens im nahen Beidenfleth?
Erstmals erfasst ihn panische Angst. Alle Selbstbeherrschung muss er aufbieten, um leise die Tür zu öffnen. Er spitzt die Ohren, horcht in die Dunkelheit. Und vernimmt erleichtert die gleichmäßigen Atemzüge der Dienstmagd, die nach 14-stündiger Arbeit in Haus, Keller und Garten in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen ist.
Dennoch schleicht er, sorgsam jede Berührung mit Tisch, Stuhl und Kleiderschrank vermeidend, ans Bett, tastet nach Abels Kopf und erschlägt sie mit der Axt.
5
Von der Turmuhr der Beidenflether Kirche hallen zwölf dumpfe Schläge herüber. Mitternacht. Zwischen die Wolkengebirge schiebt sich der Halbmond, in dessen Licht der Mörder erkennt, was er angerichtet hat. Mehrmals hat er zugeschlagen, um in der Dunkelheit den Kopf der 17-Jährigen zu treffen, deren etwas großflächiges Antlitz jetzt eine blutige Masse ist.
Schlägt er die Hände vors Gesicht, um dem Anblick zu entrinnen? Wendet er sich ab, stürzt aus der Kammer, weg, nur weg vom Ort des Grauens? Nein. Timm Thode verharrt in eigentümlicher Erstarrung. Blickt mit großen, kalten Augen auf sein Opfer herab. Kommt es ihm in den Sinn, dass Abel Dehn ihm, dem Sohn ihres Brotherren, immer mit scheuer Distanz begegnete und stumm die Augen niederschlug, wenn die Brüder, oft untereinander zerstritten, sich einig waren, sobald es darum ging, ihm mit abfälligen Bemerkungen ihre Verachtung zu zeigen? Erinnert er sich, dass Abel ihm des Öfteren einen Brotkanten aufs Holzbrett legte, weil der grobe runde Roggenlaib schon zerrissen war und die Anderen sich große Stücke in den Mund schoben und gierig kauten, um satt zu sein, bevor der Herr des Hauses Gabel oder Löffel auf den Tisch legte und damit für alle die Mahlzeit beendete? Timm Thode kennt kein Erbarmen und empfindet keine Reue. Nicht einmal Bedauern, dass Abel, die Arbeitertochter aus Sankt Margarethen, gegen die er keinen Hass hegte, sterben musste wie die Seinen.
Er überlegt die nächsten Schritte. Angestrengt arbeitet sein träger Verstand. Er hat sich vorgenommen, sofort nach der Tötung der Menschen um ihn herum den Hof durch Feuer in Schutt und Asche zu legen. Doch nun erkennt er, dass die Zeit ihm davon zu laufen droht.
Vergeblich versucht er, die aufkommende Hektik zu zügeln. Rennt, als gelte es sein Leben zu retten, aus dem Wohnhaus über den Hof zur Scheune. Schleppt die unter Stroh verborgenen Leichen von Martin, Reimer und Cornils in ihre Kammern.
Den toten Vaters schleift er unter äußerstem Kraftaufwand aus dem Pferdestall ins Schlafzimmer, legt ihn auf das breite Ehebett, daneben die tote Mutter. Nur beim Anblick der fürchterlich zugerichteten Anna stockt er und weicht offenen Mundes zurück.
In der großen Diele hält er keuchend inne. Starrt in die Dunkelheit. Es fällt ihm ein, dass der Vater in seinem Ausgehrock stets eine Brieftasche bei sich trug. Er geht zurück ins Schlafzimmer, nimmt sie an sich, ohne den Inhalt zu überprüfen.
Noch einmal sucht er die Schlafkammern der Brüder und Annas Mädchenzimmer auf. Zertrümmert und plündert die Sparschweine von Reimer und Anna und sucht unter Martins Kleidung die besten Stücke heraus. Dann begibt er sich in die Waschküche, zieht sich aus, steigt in den großen Zuber, reinigt sich gründlich von Kopf bis Fuß, zieht Martins neue Cordhose und dessen Sonntagsjackett an.
6
Der nächtliche Himmel hat aufgeklart. Sterne werden sichtbar, und der Halbmond wirft ein kaltes Licht auf das Anwesen des Marschbauern Johann Thode, den Stördeich und die weite Stille der Wilstermarsch. Es ist eine trügerische Ruhe, denn was hier geschehen ist, wird die Menschen aus ihrem Frieden, dem harten Alltag, den ruhigen Mußestunden, der derb-fröhlichen Geselligkeit an Sonn- und Feiertagen herausreißen. Wird Angst, Misstrauen und Unruhe bringen für lange Zeit.
Timm Thode steht vor dem Tor der großen Scheune, öffnet es und wirft einen gehetzten Blick in die Runde und zum Wagenschauer, der in unmittelbarer Nähe liegt. Erschrocken hält er inne. „Verdammt! Jehann! De liggt dor noch!“
Er hastet zu dem Wellblechschuppen, in dem die Kutsche, mehrere Ackerwagen, Pflüge, Heuwender, Eggen, Handgeschirr und eine Werkbank untergebracht sind. Im Halbdunkel stolpert er fast über den Bruder, der rücklings zwischen dem Landauer und einem Erntewagen liegt. Er weiß, er muss ihn hinausschaffen, in die leicht brennbare Scheune, besser noch, in seine Kammer.
Schon hat er ihn an
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