Der Meister
machst du in Venedig?« fragte ich.
»Nichts«, sagte er, »auf und ab gehen. Und was machst du in Venedig?«
»Nichts«, sagte ich, »auf und ab gehen.«
Und wir redeten von den alten Zeiten. Es war nicht so, daß wir einander in den fünfzig Jahren ganz aus den Augen verloren hatten. Ab und zu kreuzten sich unsere Wege. Später, wie es so kommt, meist bei Beerdigungen. Zum Beispiel bei der Beerdigung des alten Goblitz. Er war Carlones Doktorvater gewesen, dann für kurze Zeit sein Chef als Assistent am Musikwissenschaftlichen Institut. Ich war hingegangen, weil von meiner Fakultät keiner sonst Zeit hatte: »Und einer muß hingehen, Goblitz war Ehrensenator oder so irgendwas, und Sie haben ihn doch gekannt?«
»Ich ihn schon, ob er mich – ich weiß nicht.«
»Immerhin.«
Goblitz war dafür berüchtigt, daß er als Musikwissenschaftler peinlich vermied, Musik zu hören. Professor Julius Goblitz, zu seiner Zeit der Nestor der Musikologie. Keinem Ton öffnete er sein Ohr. Bei seiner Beerdigung allerdings sang dann ein Chor, und ein Organist spielte die Orgel.
»Warum klingt Orgel eigentlich immer irgendwie falsch?« flüsterte mir damals Carlone zu. Er saß bei der Trauerfeier neben mir.
»Das war doch eine seiner Begründungen dafür, warum er nie Musik hörte!«
Er wisse sehr gut, betonte Goblitz oft, warum er vermeide, Musik zu hören. Er lese Musik. Zum Beispiel: Orgel. Eben. Klingt immer falsch, es hallt nach, und die Töne purzeln ineinander, schauderhaft. Orgelwerke könne man nur lesen . Wolle man Orgelwerke rein hören, nehme man die Noten, setze sich hin …
… aber auch alles andere. Klaviere seien grundsätzlich verstimmt. Klavierstimmer seien die Menschen mit dem schlechtesten Gehör der Welt, so Goblitz. Entweder zerrten sie von der dreigestrichenen Oktave an alles nach oben oder quetschten es zusammen. Jedenfalls: grauenvoll.
»Und was sie mit den Baßtönen machen! Gehen Sie mir! Gehen Sie mir!«
Und erst die Orchester. Sauber spielende Hornisten gebe es nur in der Theorie. Und die Geiger. Er habe zu der Zeit, als er noch ab und zu Musik gehört habe, einmal nachgezählt und festgestellt, daß bei einem berühmten! ganz berühmten!! sogenannten Weltklasseorchester die ersten Geigen drei verschiedene Striche gehabt hätten. Wo eigentlich nur zwei möglich seien. »Man sieht also! Respektive hört. Besser: hört nicht.«
Und erst die Sänger. Diese Vierteltontenöre, die exakt einen Viertelton zu hoch sängen, damit sie »strahlen«. Nein, nein, Musik könne man nur lesen.
Überhaupt: die Kunst der Fuge . Kein Mensch wisse, für welches Instrument Bach das geschrieben habe. Es passe hinten und vorne nicht, nicht für Orgel, nicht für Klavier, nicht für Streichquartett …
»Eben. Bach hat die Kunst der Fuge fürs Lesen geschrieben.«
Nicht nur ich hatte den Verdacht, daß die ganze Argumentation nur Ausrede war. In Wirklichkeit langweilte ihn die Musik, also diejenige, mit der sich Musikwissenschaft befaßt. Ein anderer im Seminar, der sogenannte »Göttliche Giselher«, mußte einmal mit einem irgendwie hochwichtigen Dokument, das vom Rektorat gekommen war und das der Institutschef jetzt und sofort unterschreiben mußte, rasch in Goblitz’ Wohnung. Mit dem Fahrrad, schnell. Goblitz mochte das nicht, lud nie zu sich ein. War je einer seiner Studenten oder Assistenten in Goblitz’ Privatsphäre eingedrungen? Nein. Der Göttliche Giselher läutete. So schnell konnte Goblitz den Plattenspieler nicht abstellen: die Comedian Harmonists: »Mein kleiner grüner Kaktus …«
Goblitz behauptete später, das sei die Putzfrau gewesen. Die habe die Platte aufgelegt.
»Warum aber«, fragte man sich hinter vorgehaltener Hand, »hat der Alte dann einen Plattenspieler? Wenn er Musik nur liest ? Nur für die Putzfrau?«
»Was macht eigentlich der Göttliche Giselher, lebt er noch?« fragte ich in der Madonna . »Und die schöne Helene Romberg?«
*
Das Musikologische Institut hatte eine gewisse Sonderstellung, denn es war ausgelagert. Dem Chef war das nur recht. »Der Himmel ist hoch, der Zar – in unserem Fall der Rektor und die Verwaltung – ist weit. Ein altes russisches Sprichwort.« Ich war so oft dort, daß ich jetzt fast »wir« gesagt hätte: Wir waren – nein richtig, sie , die Musikwissenschaftler, waren in das Stadtarchiv ausgelagert, schon seit der Nachkriegszeit, hatten dort den ganzen zweiten Stock für sich.
Ein größerer Vorlesungsraum, ein kleinerer Seminarraum, das
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