Der Meister
Zimmer des Institutsvorstandes, das Vorzimmer mit dem King-James- (oder King-Charles-? jedenfalls Stuart-) Spaniel, der von Frau Kriegar-Ohs, der Institutssekretärin, begleitet wurde (man bemerke die Reihenfolge!). Und ein etwas größeres Zimmer, in dem mißmutig der Hauptassistent von Goblitz saß, ein gewisser Dr. Rosenfeld, der seit Menschengedenken vor sich hin habilitierte. Der hatte sich, ummauert mit den Folianten der Denkmäler deutscher Tonkunst, eingeigelt, in einem Eck verschanzt, so gut es ging. Ans Fenster gerückt zwei sperrmüllhafte Schreibtische; an dem einen saß, wenn er (selten) da war, Freudmann, der Hilfsassistent, am anderen zeitweilig der Doktorand Föger.
Die Bibliothek natürlich. Quoll über. Dr. Rosenfeld und der Göttliche Giselher, auch Föger versuchten sich der Bücherflut entgegenzustemmen. Es half nichts.
»Es ist so«, sagte Dr. Rosenfeld, »daß die Wege der Forschung, die die Musikwissenschaft in diesem Institut nimmt, davon bestimmt sind, welche Bücher zufällig gefunden werden.«
Großen Zulauf fanden Goblitz’ musikwissenschaftliche Vorlesungen nicht, auch nicht seine Seminare und die Proseminare, die Rosenfeld und Freudmann abhielten:
Vorlesung: Die Mensural-Notation von 1240 bis 1460
( I . jetzt, II . im nächsten Semester)
oder
Das vorreformatorische Gemeindelied
oder (das hatte mehr Zulauf):
Sprache und Melodie bei Schubert
Seminare: Die Opern-Ouvertüre im 18. Jh.
(Rosenfeld)
oder
Bruckners A-Capella-Werke
(auch Rosenfeld)
Proseminare: Passion und Oratorium: Bach und Mendelssohn
(Freudmann)
Die Mondsee-Wiener Liederhandschrift
(auch Freudmann)
(Dieses Proseminar war ein Flop. Es kam kein Hörer, kein einziger. Freudmann hatte die Stirn, im nächsten Semester Die Mondsee-Wiener Liederhandschrift II anzukündigen. Es kam einer .
Aber Freudmann kam nicht, denn damit hatte er nicht gerechnet. So fiel auch II aus. Die Mondsee-Wiener Liederhandschrift blieb also – vorerst – von Forschung und Lehre verschont.)
Mich als hineinschmeckenden Fachfremden, schöner gesagt: Gasthörer, berührte das alles wenig. Ich konnte den seltsamen Betrieb ungerührt von außen betrachten, aber sehr oft benutzte ich die Bibliothek. Ich rühme mich, daß ich wohl der einzige war, der – mit dem ausgerüstet, was ich, in Analogie zum absoluten Gehör, den absoluten Blick nenne – wußte, wo ungefähr welches Buch stand.
Bevor ich mich das erste Mal bescheiden in einem Proseminar in die hintere Bankreihe klemmte, fragte ich artig bei dem Referenten an.
»Freilich dürfen Sie.« Dr. Freudmann war ja um jeden Hörer froh. Das Proseminar hieß: »Die Symphonien Gustav Mahlers«. Es war insofern bemerkenswert, als Freudmann im ganzen Semester nicht über die Analyse der Einleitung des Kopfsatzes der ersten Symphonie hinauskam. Diese aber übergenau.
Ich fühlte mich damals – später nicht mehr – verpflichtet, mich mit den Arbeiten des Dozenten vertraut zu machen. Ich las also Freudmanns Aufsatz über die Becking-Kurven, den er in der Zeitschrift Melos veröffentlicht hatte. Freudmann nahm die krause Theorie Beckings offensichtlich ernst. Gustav Becking, ein deutscher Musikwissenschaftler an der NS -Universität Prag (er wurde 1945, aber nicht wegen der Kurven , erschossen), schenkte in seinem Buch Der Rhythmus als Erkenntnisquelle der Welt die Erkenntnis von eben den nach ihm genannten Kurven. Er fuchtelte beim Anhören von Musik verschiedener Komponisten mit den Händen, ließ auch andere Leute fuchteln und zeichnete mittels eines komplizierten Systems die dadurch entstandenen Linien, eben die Becking-Kurven, auf. Er behauptete, daß man quasi an der Kurve den Komponisten erkennen könne:
(Ein unbestreitbares Verdienst allerdings ist Becking nicht abzusprechen: Er war einer der ersten, der E.T.A. Hoffmann als Komponisten ernst nahm.)
Wie jeder Anfänger nahm ich staunend und respektvoll die Auslassungen Freudmanns über die Auslassungen Beckings unkritisch entgegen. Die Dissertation Freudmanns, die mir später in die Hände fiel, legte ich nach hundert Seiten weg. Freudmann entwickelte darin eine Theorie über den Zusammenhang der musikalischen Gestalt der Werke eines Komponisten mit dessen Haarfarbe. Dabei entdeckte ich – Neuland für mich – die Gesetze sekundärwissenschaftlichen Arbeitens. Freudmann legte deutliche Parallelen zutage zwischen der Textur melodischer Einfälle des nachweislich rothaarigen
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