Der Meister
über größere »Wechsel« verfügten, im Gasthof). Ich, schon Referendar und schon verdienend, suchte mir ein Hotel. So auch Gastdozent Professor Amtobel.
Beinah hätte er nicht mitfahren können, denn, so sagte er mit Stolz am Ende einer Vorlesung – er hielt ein Kolleg über die italienische Oper des 17. Jahrhunderts nach Monteverdi, daher auch der Ausflug –, die nächste und übernächste Vorlesung falle aus, er sei, wie jeder Eidgenosse, zur Wehrübung einberufen. Und nicht nur das: Er sei Leutnant und hoffe mit einiger Berechtigung, diesmal zum Oberleutnant befördert zu werden.
»Leider kann ich also bei der Exkursion nicht …«
Aber er machte es dann doch möglich. Sonst wäre er gestorben, denn es fuhr die schöne Helene Romberg mit.
Es gab damals – vielleicht ist es heute anders – nicht viele Studentinnen, die sich für Musikwissenschaft interessierten. Warum? Auch ein Rätsel, das der Weltgeist zur Lösung aufgibt. Nur zwei weibliche studentische Objekte der Begierde waren regelmäßig vertreten: die eben erwähnte schöne Helene Romberg, die eigentlich auf Lehramt studierte, und die Russin Njakleta mit unaussprechlichem Familiennamen.
Ich fuhr mit meinem eigenen Auto. (Soweit war ich schon. Als zwar schlecht, aber immerhin regelmäßig verdienender Rechtsreferendar und Hilfsrechtsanwalt hatte ich mir einen zehn Jahre alten VW Käfer geleistet.)
»Soll ich jemanden mitnehmen?« Ich hatte gehofft, mindestens Njakleta oder sogar die schöne Helene Romberg würden den Finger heben, aber die beiden fuhren lieber mit dem Omnibus. So stieg Carlone bei mir ein.
Carlone hieß selbstverständlich nicht Carlone, er wurde so genannt, weil er eine große Vorliebe für alles Italienische hatte, namentlich für die italienische Küche, und weil er gut Italienisch sprach, was für einen Musikwissenschaftler bekanntlich günstig ist. Seine körperliche Erscheinung, nun ja: Ein ins Rötliche stechender Bart und eine gewisse Behäbigkeit verliehen ihm Würde und Gelassenheit, die sogar den quirligen Meister mitunter dämpfen konnte. Er war immer liebenswürdig, stets gefällig, und namentlich Damen bewunderten seine schöne Baritonstimme.
»Ich habe nichts verstanden von deinem Referat«, sagte einmal die schöne Helene Romberg, »aber zuzuhören war ein Genuß.«
Also Carlone.
Bei Gelegenheit jener Autofahrt, die – einige Pausen eingerechnet – mehrere Stunden in Anspruch nahm, erfuhr ich, daß Carlone heimlich studierte. Er hatte – ich nehme wiederum den Vergleich mit dem absoluten Gehör in Anspruch – die absolute Nase für gastronomische Stätten. Ich hatte auf jener Fahrt das Gefühl, er roch auf Kilometer die Qualität der Restaurants.
Gut, auch unsereiner hat einen Blick dafür, kann ungefähr die Qualität der Küche einschätzen, wenn man das Haus genauer betrachtet, die Gegend, Erfahrungswerte berücksichtigt. Bei Carlone war es wünschelrutenhaft. Sein Pendel schlug aus.
»Fahr einmal da hinauf.«
Ich fuhr hinauf. Ein Landgasthof. Herrlich. Das war es . Ein unvergeßliches Schinkenomelett, zum Beispiel.
Oder: »Sollen wir dort vorn anhalten?«
»Die haben Ruhetag.«
Selbst das merkte er auf die Distanz von … Nein, das ist jetzt gelogen. Aber beinahe so war es.
Carlone studierte heimlich. Sein Vater durfte nichts wissen. Also, daß er studierte, schon. Nur nicht: was. Carlone stammte aus Bielefeld. Seine Familie hatte dort ein Unternehmen beträchtlicher Größe, stellte irgendwelche Waschmittel her, könnte auch sein Zahnpasta oder Schraubverschlüsse, jedenfalls wollte der Vater, daß Carlone Chemie studierte.
»Schon auf dem Gymnasium habe ich mich nicht die Bohne für Chemie interessiert. Diese Formeln. H 2 O geht ja noch, aber dann ganze Ketten von H und N und F und weiß der Teufel was. Aber nun ja, dem Vater zuliebe.«
Zwei Semester hatte er es ausgehalten. Im zweiten Semester hatte er einen Laborplatz bekommen. »Ich muß etwas verwechselt haben. So braunes Zeug in einer Flasche. Es war das falsche braune Zeug. Wir rissen die Fenster auf, sonst wären wir erstickt. Der Rauch zog hinaus auf die Straße. Noch weit vorn an der Kreuzung kotzten die Passanten.«
Am Ende des zweiten Semesters mußte Carlone zu einer Prüfung antreten. Damals zogen Kandidaten, selbst nur für eine Zwischenprüfung, einen schwarzen Anzug an. Weißes Hemd und Krawatte. So ging Carlone zur bestimmten Stunde ins Institut für anorganische Chemie. Unten an der Tür hörte er eine
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