Der Meister des Drakung-Fu
»Alles verstanden?«
Bajar nickte. Zarina stemmte die Hände in die Hüften und wackelte mit den Fingern, als könne sie den Beginn der Kämpfe kaum abwarten. Nojan schnaufte wie ein Stier. Inara betrachtete prüfend ihre langen, spitzen Fingernägel. Kerul sah Nara-Venja ausdruckslos an, ohne zu blinzeln.
Dschingbiss Zhan flog neben die junge Drakung-Fu-Meisterin. Er musterte die Krieger, einen nach dem anderen. Dann nickte er, breitete langsam die Arme aus und rief: »Die Drakung-Fu-Prüfungen beginnen. Möge die Modrigkeit mit euch sein!«
Ruhe vor dem
letzten Kampf
K erul hing kopfüber in der kleinen Lärche am rechten Rand der Senke. Sein Brustkorb hob und senkte sich wie ein Blasebalg, so heftig atmete er. Schweiß rannte ihm übers Gesicht, von der Stirn in die dunkelbraunen Haare und tropfte von den Haarspitzen auf den Boden.
Es war die fünfte und letzte Nacht der Drakung-Fu-Prüfungen.
Seine Mutter kniete vor ihm und tupfte ihm das Gesicht mit einem großen Baumwolltuch ab. »Hier, nimm, das wird dich stärken«, sagte sie und hielt ihm einen Fladen mit Kamelmilchquark hin.
Kerul biss vorsichtig ab. Es sah aus, als würde es ihn unheimliche Anstrengung kosten. Dann legte er eine Hand über den Bauch. Seit ihn der gewaltige Tritt von Tamer dort getroffen hatte, hatte sich sein Magen zu einer knoblauchknollengroßen, harten Kugel zusammengezogen.
Tamer war Keruls erster Gegner gewesen. Die beiden hatten die halbe Nacht gekämpft. Mehrmals hatte Tamer seine langen Arme und Beine um Kerul geschlungen. Immer konnte Kerul sich aus der schmerzhaften Klemme befreien. Der Kampf erschöpfte Kerul, doch nicht so sehr wie den großen Tamer. Es gelang Kerul, sich Tamers lange Arme und Beine zu schnappen und sie hinter seinem Rücken festzuhalten. Tamer zappelte und wehrte sich aus Leibeskräften. Kerul wusste sich nicht anders zu helfen und begann, sich wie ein Hammerwerfer mit Tamer zu drehen. Runde um Runde um Runde.
Tamer befreite sich mit einem Ruck. Doch durch die vielen Drehungen hatte er die Orientierung vollkommen verloren. Er flog direkt vor einen der Bäume, die am Rand der Senke standen. Ein alter Vampgole, der in dem Baum abhing, fiel dabei herunter und direkt auf Tamer. Das gab ihm den Rest. Kurz bevor er ihn Ohnmacht fiel, erkannte er Keruls Macht an und gab seine Unterlegenheit zu.
Keruls erster Gegner war somit von einem Baum und einem Vampgolenopa ausgeschaltet worden.
Keruls Mutter strich behutsam über einen Riss, der sich über den gesamten Oberschenkel ihres Sohnes zog. Es war ein Kratzer, der Keruls schwarze Hose aufgeschlitzt hatte. Er hätte von einem Leoparden stammen können. Doch es war Inara gewesen, die Kerul mit ihren langen Zehennägeln gestreift hatte.
Sie war Keruls zweite Gegnerin gewesen. Dieser Kampf hatte noch länger gedauert als der gegen Tamer und war noch kräftezehrender gewesen. Inara hatte Kerul mit ihren Eckzähnen, Fingernägeln und Fußtritten zum Rückzug zwischen zwei Felsblöcke gezwungen. Kerul saß in der Falle. Instinktiv machte er sich ganz klein. Dadurch rutschte er in der Lücke nach unten. Inara wollte ihm nach. Doch sie griff so hektisch nach ihm, dass sie mit den Fingernägeln an einem der Felsblöcke hängen blieb. Die Fingernägel brachen ab. Inara brach zusammen. Entsetzt starrte sie auf ihre Finger. All die Jahre, in denen sie die Nägel hatte wachsen lassen! Es war, als wäre ein Teil von ihr gestorben. Sie konnte sich nicht mehr konzentrieren und nur noch an ihre kaputten Fingernägel denken. So konnte sie unmöglich weiterkämpfen! Sie gestand Kerul den Sieg ein. Der konnte sein Glück kaum fassen.
Doch seine nächsten Gegner warteten bereits. Beim Kampf gegen Zarina hatte Kerul sich einen Muskel gezerrt, beim Kampf gegen Nojan hatte er sich den Fuß gequetscht. Aber er hatte sie alle besiegt. Bis auf einen.
Kerul öffnete die vor Müdigkeit geschwollenen Augen. Er sah auf die andere Seite der Senke. Dort stand er. Sein letzter Gegner. Bajar. Er hing nicht mehr im Baum ab wie Kerul, um Kräfte zu sammeln. Er war bei seinen Kämpfen kaum ins Schwitzen geraten und sah aus, als käme er von einem entspannten Blutkränzchen. Im Gegensatz zu Kerul hatte Bajar immer nur wenige Minuten für einen Kampf gebraucht. Und im Gegensatz zu Kerul hatte er seine Kämpfe nicht durch glückliche Zufälle, sondern durch eigene Kraft und perfekte Beherrschung der Drakung-Fu-Kampfkunst gewonnen.
Es gab keine Frage: Bajar war einer der besten jungen Krieger in
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