Der Meister des Drakung-Fu
ganz Ulan-Vampor. Wahrscheinlich sogar der ganzen Mongolei. Kerul wurden die Beine weich und er wäre beinahe vom Ast gerutscht, als er an den bevorstehenden Kampf mit Bajar dachte.
Bajar dagegen schien sich geradezu auf den Kampf zu freuen. Er hüpfte ungeduldig auf und ab, stieß die Fäuste zusammen und machte eine Rolle in der Luft. Neben ihm stand Nara-Venja mit einem Krug Blut. Sie redete auf ihren Bruder ein und er nickte ein paarmal. Dann griff er nach dem Krug und trank ihn in einem Zug aus. Er schlug sich mit der Faust auf die Brust und fauchte in Keruls Richtung.
»Lass dich nicht einschüchtern«, sagte Keruls Mutter leise, die seinen Blick zum Gegner bemerkt hatte. »Du bist zwar nur halb so groß und halb so breit wie Bajar, aber du hast genauso viele Gegner geschlagen wie er.«
»Ja, aber nur durch Glück«, erwiderte Kerul. »Tamer ist vor einen Baum geflogen, Inara hat sich die Fingernägel abgebrochen, Nojan hat seinen Fuß in eine Felsspalte eingeklemmt und Zarina ist eingeschlafen, weil ich so lange vor ihr weggeflogen bin.«
»Es ist vollkommen egal, wie du es schaffst. Wenn du erst einmal Drakung-Fu-Meister bist, und das wirst du, mein Sohn, fragt keiner mehr danach. Außerdem hast du nicht nur Glück, sondern auch Geschick.«
Durch das Publikum am Rand der Senke ging ein aufgeregtes Flattern und Zischen, als der Großmeister Dschingbiss Zhan in die Mitte der Senke schwebte. »Vampgolen, Bewohner von Ulan-Vam-por! Die fünfte Nacht bricht an. Der letzte, alles entscheidende Kampf steht kurz bevor«, verkündete der Alte mit einer Stimme wie ein Donnergrollen.
»Bajar Gangbatar wird mit Kerul Tschagatai Jugur Selenga um die diesjährige Meisterschaft im Drakung-Fu kämpfen. Wenn sich die Nacht zum Ende neigt, wird der neue, junge Meister feststehen. Dann wollen wir fünf Nächte feiern, wie es die Tradition vorsieht.« Der Großmeister rieb sich die Hände. »Doch erst gilt es, einen Kampf zu gewinnen.« Dschingbiss Zhan sah zu Bajar und nickte ihm zu. Dann wanderte sein Blick zu Kerul. Er sah ihn mehrere Sekunden an, dann schwenkten seine Augen zurück in die Zuschauermenge. »Nur der wahre Meister wird siegen. Möge die Modrigkeit mit euch sein!«
Verkeilte Eckzähne
K aum hatte Dschingbiss Zhan den Kampfschauplatz verlassen, flog Bajar vom Rand der Senke nach unten.
Kerul schwang sich vom Ast. Er nickte seiner Mutter zu und wollte ebenfalls nach unten fliegen. Doch im letzten Moment ergriff seine Mutter seine Hand. Sie sah ihn eindringlich an und sagte leise: »Du bist der Meister.«
Kerul lächelte und drückte die Hand seiner Mutter. Dann wandte er sich um und flog in die Senke. Er schwebte über der rechten Seite der Senke, die Augen fest auf seinen Gegner gerichtet.
Bajar schwebte über der linken Seite der Senke. Seine dunkelblauen Augen bohrten sich in den jungen Krieger ihm gegenüber. In ihnen blitzte Kampfeslust, Ungeduld und unbändige Kraft. Bajar zog die Mundwinkel weit auseinander und vier gewaltige Eckzähne kamen zum Vorschein. Sie glänzten wie silbrigweiße Dolche in der Nacht. Bajar fauchte.
Kerul stellten sich die Nackenhaare auf, ihn fröstelte. Seine Eckzähne waren noch nicht einmal halb so lang wie die von Bajar. Er war fast zwei Köpfe kleiner als sein Gegner. Seine Oberschenkel waren so breit wie Bajars Oberarme. In Bajars Schuhe passten Keruls Füße zweimal hinein.
Doch wäre es nur das gewesen, hätte Kerul keine Angst vor Bajar gehabt. Schließlich hatte er schon ausgewachsene Maralhirsche, Schneeleoparden und einen Gobibären gebändigt. Er wusste, dass Kraft und Größe allein nicht alles waren. Und Vampire, die besonders laut fauchten, bissen bekanntlich besonders selten.
Aber Bajar war auch einer der besten Drakung-Fu-Schüler. Er beherrschte die Drakung-Fu-Techniken wie kaum ein anderer in seinem Alter. Er war ein guter Flieger und ein hervorragender Flopser. Und er war im Dorf beliebt. Während Kerul meistens am Rand stand, war Bajar immer mittendrin im Geschehen. Er galt als hilfsbereit, großzügig und zuverlässig. Drakung-Fu-Tugenden, die von allen geschätzt wurden. Bis auf Keruls Mutter würden die Zuschauer alle auf seiner Seite sein. Kerul hatte beim Yakhörner-Hockey oft genug gesehen, wie viel die Unterstützung durch Anhänger am Spielfeldrand ausmachte. Auch in dem Punkt war ihm Bajar überlegen.
Kerul, der schmächtige, unbeliebte Einzelgänger, hatte nicht die geringste Chance.
All das wusste Kerul.
Aber er wusste auch, dass er
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