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Der Meister und Margarita

Titel: Der Meister und Margarita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Bulgakow
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einen letzten Blick auf die Villa werfen, in der sie so lange gelitten hatte. Im hellerleuchteten Fenster erblickte sie das vor Verblüffung verzerrte Gesicht Nataschas.
    "Leb wohl, Natascha!" schrie Margarita und riß den Besen hoch. "Unsichtbar! Unsichtbar!" schrie sie noch lauter und flog zwischen den Zweigen des Ahorns, die ihr ins Gesicht peitschten, über das Tor in die Gasse. Ihr nach flog der tobende Walzer.
21 Der Flug
    Unsichtbar und frei! Unsichtbar und frei! Nachdem Margarita ihre Gasse durchflogen hatte, geriet sie in eine zweite, die die erste im rechten Winkel schnitt. Diese geflickte, gestopfte, krumme und lange Gasse mit der schiefen Tür des Ölladens, in dem becherweise Petroleum sowie Flaschen mit Insektenmitteln verkauft wurden, durchsauste sie in einem einzigen Augenblick und wurde jetzt inne, daß sie, wiewohl vollkommen frei und unsichtbar, bei aller Wonne wenigstens etwas vernünftig sein mußte. Nur durch ein Wunder gelang es ihr, zu bremsen, so daß sie sich an der alten schiefen Ecklaterne nicht zu Tode schlug. Sie wich aus, packte den Besen fester, flog langsamer und achtete auf die elektrischen Leitungen und auf die Ladenschilder, die quer zum Gehsteig hingen.
    Die dritte Gasse führte direkt zum Arbat. Hier lernte Margarita den Besen lenken und begriff, daß dieser dem leisesten Druck ihrer Hände und Füße gehorchte und daß sie beim Flug über die Stadt sehr aufmerksam sein mußte und nicht zu sehr rasen durfte. Überdies hatte sie schon in der Gasse gemerkt, daß die Fußgänger sie nicht sahen. Keiner hob den Kopf, keiner schrie "Sieh mal, sieh mal!", keiner prallte zurück, kreischte, fiel in Ohnmacht oder brach in wildes Gelächter aus.
    Margarita flog lautlos, sehr langsam und nicht hoch, etwa in Höhe des ersten Stocks. Allein trotz des langsamen Fluges fehlte sie beim Eingang zum hell erleuchteten Arbat ein wenig und prallte mit der Schulter gegen eine beleuchtete Scheibe, auf die ein Pfeil gemalt war. Das ärgerte sie. Sie zügelte den gehorsamen Besen, flog ein Stückchen zur Seite, stürzte sich sodann auf die Scheibe und schlug sie mit dem Besenstiel kaputt. Klirrend fielen die Scherben herab, die Passanten spritzten auseinander, irgendwo trillerte eine Pfeife, und Margarita brach nach dieser überflüssigen Tat in Gelächter aus. Auf dem Arbat muß ich noch vorsichtiger sein, dachte sie, hier hängt so viel herum, daß man gar nicht schlau daraus wird. Sie tauchte zwischen den Drähten hindurch. Unter ihr glitten die Dächer von Obussen, Autobussen und Personenwagen dahin, und über die Gehsteige trieben, so schien es ihr von oben, Ströme von Schirmmützen. Von diesen Strömen zweigten Bäche ab und ergossen sich in die feurigen Rachen der Spätgeschäfte. I, ist das ein Brei! dachte Margarita ärgerlich. Hier kann ich nicht umkehren! Sie überquerte den Arbat und stieg höher, bis zum dritten Stock. Vorbei an den blendenden Leuchtröhren am Eckgebäude des Theaters flog sie in eine schmale Gasse mit hohen Häusern. Hier standen alle Fenster offen, und aus allen Fenstern klang Radiomusik. Neugierig schaute Margarita in eine Küche hinein. Zwei Primuskocher summten auf der Herdplatte, davor standen zwei Frauen mit Löffeln in der Hand und beschimpften sich. "Man macht das Licht aus, wenn man die Toilette verläßt, das sag ich Ihnen, Pelageja Petrowna", sagte die eine, die in einem dampfenden Kochtopf rührte, "sonst müssen wir Sie auf Räumung verklagen."
    "Sie sind auch nicht besser", antwortete die andere. "Ihr nehmt euch beide nichts", sagte Margarita tönend und kraxelte übers Fensterbrett in die Küche. Die beiden Zankweiber drehten sich nach der Stimme um und standen mit schmutzigem Löffel in der Hand wie versteinert. Vorsichtig griff Margarita zwischen ihnen hindurch und drehte die beiden Primuskocher aus. Die Frauen ächzten nur und sperrten den Mund auf. Aber Margarita langweilte sich bereits und flog wieder hinaus in die Gasse.
    Am Ende der Gasse erregte ein prächtiges achtgeschossiges Hochhaus, offenbar grade erst fertig gebaut, ihre Aufmerksamkeit. Margarita flog abwärts, landete und sah, daß die Fassade mit schwarzem Marmor verkleidet war. Durch die breite Glastür erblickte sie die goldbetreßte Schirmmütze eines Portiers und die Knöpfe auf seiner Livree. Über der Tür prangte in Goldbuchstaben die Inschrift "Haus der Dramlit". Margarita musterte die Inschrift mit verkniffenen Augen und überlegte, was "Dramlit" bedeuten mochte. Dann nahm sie den

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