Der Meister
du gesagt, du würdest dir gerne eine Scheibe von mir abschneiden. Die Wahrheit ist, dass ich mir wünschte, ich wäre mehr wie du. Ich wünschte, ich hätte etwas von deiner Leidenschaft.«
Sie legte die Hand auf seine Brust. »Du tust ja gerade so, als ob hier drin kein Herz schlägt.«
»Hast du das nicht selbst geglaubt?«
Sie schwieg. Der Mann im grauen Anzug.
»So ist es, habe ich Recht?«, sagte er.
»Ich wurde einfach nicht schlau aus dir«, gab sie zu. »Du hast immer so distanziert gewirkt. Irgendwie nicht ganz menschlich.«
»Gefühllos.«
Er hatte das Wort so leise gesprochen, dass sie sich fragte, ob es überhaupt für ihre Ohren bestimmt war. Nur ein geflüsterter Gedanke.
»Wir reagieren verschieden auf die Dinge, mit denen, wir in unserer Arbeit konfrontiert werden«, sagte er. »Du hast gesagt, dass es dich wütend macht.«
»Ja, das kommt oft vor.«
»Also stürzt du dich in den Kampf. Du gehst mit Vollgas drauflos. Und mit derselben Einstellung packst du auch das Leben an.« Mit einem leisen Lachen fügte er hinzu: »Wehe, wenn sie losgelassen.«
»Wie soll ich denn nicht wütend werden?«
»Ich lasse es erst gar nicht so weit kommen. So gehe ich damit um. Ich trete einen Schritt zurück, atme tief durch. Ich gehe an jeden Fall heran wie an ein Puzzlespiel.« Er sah sie an. »Deswegen bin ich von dir so fasziniert. Du bist ständig in Bewegung, du investierst so starke Gefühle in alles, was du tust. Das empfinde ich fast als … bedrohlich.«
»Wieso?«
»Weil es meinem Wesen widerspricht. Dem, was ich für mich anstrebe.«
»Du hast Angst, meine emotionale Art könnte auf dich abfärben.«
»Es ist, wie wenn man zu nahe ans Feuer gerät. Es zieht uns an, obwohl wir sehr wohl wissen, dass wir uns die Finger verbrennen werden.«
Sie drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. »Ein bisschen Gefahr«, flüsterte sie, »kann ganz aufregend sein.«
Der Abend ging unmerklich in die Nacht über. Sie duschten sich den Schweiß ab, der sich auf ihrer Haut vermischt hatte, und betrachteten sich grinsend im Spiegel, in identische Hotel-Bademäntel gehüllt. Sie ließen sich das Abendessen aufs Zimmer kommen und tranken Rotwein im Bett, während im Fernseher Comedy-Serien liefen. Heute verzichteten sie auf CNN; heute sollten keine schlechten Nachrichten ihnen die Stimmung verderben. Heute Nacht wollte sie Lichtjahre von Warren Hoyt entfernt sein.
Aber so sehr sie ihn aus ihren Gedanken zu verdrängen suchte, geborgen in den Armen eines Mannes, dem sie vertraute, aus ihren Träumen konnte sie Hoyt nicht verbannen. In der Dunkelheit schreckte sie hoch, schweißgebadet vor Angst, nicht vor Leidenschaft. Ihr Herz klopfte so laut, dass sie fast das Klingeln ihres Handys überhört hätte. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie sich aus Deans Umarmung befreit hatte und über ihn hinweg nach dem Telefon greifen konnte, das auf seinem Nachttisch lag. Sie klappte es auf.
»Rizzoli.«
Es war Frost. »Ich habe Sie wohl geweckt.«
Sie schielte nach dem Radiowecker. »Fünf Uhr morgens – ja, davon können Sie ausgehen.«
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Mir geht’s gut. Wieso?«
»Also, ich weiß ja, dass Sie heute wieder zurückfliegen. Aber ich dachte mir, Sie sollten es schon vorher erfahren.«
»Was?«
Er antwortete nicht sofort. Sie hörte im Hintergrund, wie jemand ihn etwas fragte; es ging um das Sicherstellen von Spuren. In diesem Augenblick wusste sie, dass er im Einsatz war – an einem neuen Tatort.
Neben ihr begann Dean sich zu regen; er hatte ihre plötzliche Anspannung gespürt. Jetzt setzte er sich auf und schaltete das Licht ein. »Was ist denn?«
Frost meldete sich wieder. »Rizzoli?«
»Wo sind Sie?«, fragte sie.
»Ich bin zu einem Zehn-Vierundsechziger gerufen worden. Und da bin ich auch jetzt noch …«
»Seit wann bearbeiten Sie Einbrüche?«
»Es handelt sich um Ihre Wohnung.«
Sie verharrte vollkommen reglos, das Telefon ans Ohr gepresst, und hörte nur das Hämmern ihres eigenen Pulses.
»Da Sie ja verreist waren, hatten wir die Überwachung Ihres Gebäudes vorübergehend aufgehoben«, sagte Frost.
»Ihre Nachbarin von Apartment 203 hat den Einbruch gemeldet. Miss – äh …«
»Spiegel«, sagte sie leise. »Ginger.«
»Genau. Scheint ein ziemlich aufgewecktes Mädel zu sein. Sie sagt, sie arbeitet als Bedienung drüben bei McGinty’s. Kam von der Arbeit nach Hause und bemerkte Glassplitter unter der Feuertreppe. Da hat sie nach oben geschaut und
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