Issilliba - Aaniya, das Mädchen, das mit den Fliegen sprechen konnte (German Edition)
Der Weg in die andere Welt
D ie Sonne brannte auf das Dorf herab und brachte die Luftschicht über den staubigen Straßen zum Flimmern.
Aaniya stand in der Werkstatt an der Feuerstelle. Sie hielt das vordere Ende einer Metallstange in die Glut, aus dem sie eine Laterne schmieden wollte.
Schweiß rannte ihr über die Stirn und in die Augen. Sie wischte sich ihre blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht und griff zum Hammer.
Wie hatte ihr Vater das doch immer gemacht?
Sie zog das Eisen aus dem Feuer und ließ es etwas abkühlen, bevor sie es auf den Amboss legte. Das war nun schon ihr zehnter Versuch. Doch sie würde nicht aufgeben, auch wenn die Mutter meinte, dass der Schmiedeberuf keine Frauensache wäre. Freya sagte immer, dass die Familie auch so um die Runden kommen würde, mit Aaniyas beiden großen Schwestern, die sich um den kleinen Ben und Baby Jada kümmern konnten, während sie Körbe flocht und Teppiche webte. Dazu kamen noch die Einnahmen aus den Handelszügen, die Aaniya viermal im Jahr gemeinsam mit Goran, dem Müllersohn, unternahm. Und dennoch.
Aaniya hob den schweren Hammer, da setzte sich eine Fliege auf ihre Nasenspitze. Das Bild wurde unscharf und verschwand. Alles war finster.
Bea fuchtelte schlaftrunken vor ihrem Gesicht herum. Doch da war keine Fliege. Enttäuscht wurde ihr klar, dass sie nur geträumt hatte. Sie blinzelte und spähte hinüber zu ihrem Fenster. Bleiernes Grau schimmerte durch die Schlitze ihres Rollladens. Es war wohl noch früh am Morgen. Bea checkte die Uhrzeit auf ihrem Wecker. 4:30. Also noch zwei Stunden, bevor sie in der Näherei sein musste. Sie schloss ihre Augen und hoffte, dass der Traum von gerade eben wieder zu ihr zurück kam. Bald versank sie im Halbschlaf und erinnerte sich an dieses Mädchen oder besser an diese blonde, junge Frau aus dem Land Issilliba, die vor Kurzem ihren Vater verloren hatte und jetzt die Arbeit in der Schmiede übernehmen wollte. Irgendwie hatte sich alles so echt angefühlt, so, als ob sie diese Aaniya gewesen wäre. Vom Alter her passten sie jedenfalls zusammen. Aaniya musste Anfang zwanzig sein.
Noch einmal sah Bea das kleine Dorf mit den Natursteinhäusern und den Schilfdächern im Licht der grellen Sommersonne in ihrem Kopf auftauchen. Wie ein Vogel am Himmel, der sich im warmen Wind treiben lässt, flog sie über die leicht hügelige Landschaft mit ihren vielen kleinen Tümpeln und Seen, ließ die ausgedehnten Wälder im Süden hinter sich, bis vor ihr plötzlich ein hohes, dunkelblau gefärbtes Gebirgsmassiv aufragte.
Der Wecker piepste in schrillen Tönen und zerriss gnadenlos die Erinnerungen an den schönsten Traum, den Bea je gehabt hatte.
Verärgert drückte Bea den Aus-Knopf und lag eine Weile nachdenklich da. Dann setzte sie sich langsam in ihrem Bett auf. Sie tastete nach ihrer Lampe und schaltete sie ein. Das grelle Licht machte ihre Stimmung auch nicht besser. Aber vielleicht würde sie heute Nacht wieder von Issilliba träumen, dachte Bea und raffte sich auf. Doch zuerst standen jetzt zehn Stunden Näharbeit an. Sie ging in das winzige Badezimmer ihrer Einzimmerwohnung und fuhr sich mit der Bürste durch die schulterlangen, braunen Haare, die kurze Zeit später bestimmt wieder so aussehen würden, als ob sie noch nie gekämmt worden wären. Sie warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Ihre blauen Augen sahen sie müde an. Aaniyas bernsteinfarbene Augen hatten gesprüht vor Energie.
In der Küche machte sich Bea schnell einen Tee, aß einen Lebkuchen, den es in den Supermärkten jetzt schon Mitte September zu kaufen gab und machte sich dann auf den Weg zur Bushaltestelle. Ein eigenes Auto konnte sie sich nicht leisten. Während sie im Nieselregen dahin schritt, kehrten ihre Gedanken immer wieder zu Aaniya zurück. In ihrer Welt war alles so viel strahlender gewesen.
Am Abend ging Bea extra früh schlafen. Sie war erschöpft von dem langen Tag, aber jetzt, da sie sich krampfhaft den Traum von letzter Nacht herbei wünschte, konnte sie nicht zur Ruhe kommen. Sie musste an ihre Arbeit denken. Eigentlich gefiel ihr die Handarbeit, nur die Bedingungen, unter denen sie die meiste Zeit ihres Lebens verbrachte, raubten ihr die Energie. Das triste Betongebäude mitten in der Stadt, der riesige, graue Raum mit den vielen Näherinnen und die folienverkleideten Fenster, durch die keiner der Arbeiterinnen nach draußen blicken konnte.
Unruhig warf sich Bea hin und her . Irgendwann knipste sie das Licht wieder
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