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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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sich in ihrem Bauch aus, hörte das Rascheln von Papieren. »Nein, hier ist nichts notiert. Kein Hinweis, dass ein Neugeborenenultraschall angeordnet worden ist. Du lieber Himmel, was ist denn da los bei euch?«
    Tillie legte auf. In ihrem Kopf drehte sich alles. Das war der Supergau. Das Schlimmste, was überhaupt passieren konnte. Wer war dieser Mann gewesen? Jemand, der sich als Arzt verkleidet hatte, um einen Säugling zu stehlen? War sie wirklich auf einen Verbrecher und einen ganz miesen, aber simplen Trick hereingefallen? Nein, das konnte nicht sein! Das war unmöglich!
    Es ist sicher nur ein Missverständnis, dachte sie, ein Kommunikationsproblem, die haben in der Kardiologie irgendwas falsch verstanden, Lisa-Marie ist irgendwo, vielleicht haben sie sie zum Röntgen gebracht.
    So eine Klinik war ein Moloch, ein Gewirr aus Fluren, Etagen, Stationen und Zimmern, von Mitarbeitern, Zuständigen, Verantwortlichen, Chefs und Untergebenen, ein bürokratischer Riesenapparat. Dennoch löste sich ein Baby in einem Krankenhaus nicht einfach in Luft auf.
    Ihre Angst wurde stärker. Es hatte keinen Zweck, weiter zu spekulieren, sie musste Alarm schlagen.
    Bevor sie der Mutter Bescheid sagte, alarmierte sie den Oberarzt und all ihre Kolleginnen, dieser informierte den Chefarzt. Man sprach mit sämtlichen Kollegen in der Kardiologie, befragte den Pförtner, aber auch dem war nichts Außergewöhnliches aufgefallen.
    Und dann erfuhren Leonie und Hella das Ungeheuerliche: Ihre neugeborene, kerngesunde, hübsche Lisa-Marie war von einem Unbekannten aus der Klinik entführt worden. Leonie sagte gar nichts. Sie war kalkweiß im Gesicht und unfähig zu begreifen, was geschehen war. Ganz ruhig lag sie da und wartete darauf, aus diesem Alptraum zu erwachen.

FÜNFUNDDREISSIG

    Tillie kam erst kurz vor Mitternacht zurück.
    »Entschuldige«, stotterte sie, »aber ich konnte nicht früher, da ist was in der Klinik passiert.«
    »Da gibt’s nichts zu entschuldigen«, schnauzte ihre Mutter. »Du lässt mich hier mit Yvonne den ganzen Tag hocken, rufst nicht mal an, sagst nicht, was los ist, ich kann ja seh’n, wo ich bleibe, als wenn ich weiter nichts zu tun hätte.«
    Die Augen ihrer Mutter schimmerten wässrig.
    »Wo ist sie?«
    »Sie schläft, verdammt. Endlich! Sie hat fast den ganzen Tag nur geschrien. Das kann ja kein Mensch aushalten. Es ist die Hölle!«
    Tillie stand schweigend auf und ging ins Schlafzimmer. Yvonne lag auf dem ungemachten Bett ihrer Mutter, sie war noch nicht mal ausgezogen, hatte immer noch die Sachen an, mit denen sie den ganzen Tag auf dem Teppich herumgerutscht war. Dabei hatte Tillie Schlafanzug, Badetuch, Wäsche zum Wechseln, mehrere Sockenpaare und verschiedenes Spielzeug für sie hiergelassen. Aber auf dem Bett lag nichts. Noch nicht mal ihr geliebtes Schmusetier, ein flauschig weicher Eisbär mit freundlichen Knopfaugen. Yvonnes Gesichtchen war rot und verschwollen vom vielen Weinen.
    Tillie packte hastig alle Kindersachen in ihre Reisetasche, die neben dem Kleiderschrank stand, nahm die schlafende Yvonne auf den Arm und ging in die Küche. Ihre Mutter hatte sich vom Küchentisch nicht wegbewegt.
    »Trotzdem tausend Dank für alles«, schaffte sie zu sagen, »gute Nacht.«
    »Was ist denn so Weltbewegendes passiert?« Ihre Mutter hatte die Augen geschlossen und kratzte sich am Kopf. Sie sah nicht aus, als würde es sie wirklich interessieren.
    »Erzähl ich dir ein andermal. Ich bin jetzt einfach zu müde.«
    »Na, dann kann es ja nicht so dramatisch gewesen sein.«
    »Nein.« Tillie ging ohne ein weiteres Wort.
    Als sie in ihrer kleinen Eineinhalbzimmerwohnung ankam, wachte Yvonne auf und begann zu quengeln. Sie machte ihr eine warme Milch mit Honig, zog sie aus, sang ihr ein paar Lieder vor, und bald schlief Yvonne ruhig und fest.
    Als Tillie anschließend in der Küche saß und einen heißen Instanttee trank, stürzten die Ereignisse noch einmal mit Gewalt auf sie ein.
    Die Polizei traf eine Viertelstunde, nachdem Ärzte und Krankenschwestern alarmiert waren, ein, das gesamte Krankenhaus wurde durchsucht, von Lisa-Marie fehlte jede Spur. Im Klinikflur stand das leere Kinderbett, der Täter hatte offensichtlich mit dem Kind vollkommen unbehelligt durch einen Nebenausgang das Haus verlassen.
    Das Einzige, was der Oberarzt Tillie zuzischte, war ein knappes: »Wie kann man nur so naiv sein!« Mehr sagte er nicht, aber Tillie fühlte sich wie ein Käfer, der von einem schweren Stiefel zertreten

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