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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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ab.
    Jonathan sah auf die Uhr. Es war jetzt Viertel nach acht. Um diese Zeit war Sofia immer wach. Er hatte in den vergangenen fünf Jahren keinen Morgen erlebt, an dem sie nicht um sieben Uhr oder früher aufgestanden war. Aber sie hob nicht ab, obwohl das Telefon im ganzen Haus zu hören war.
    Sie hatte ihm ihr Ehrenwort gegeben.
    Aber sie war nicht da.
    Jonathan versuchte es nicht weiter und drückte aufs Gas. Vor Wut auf Sofia und aus Angst um Lisa-Marie.

ACHTUNDDREISSIG
    Leonie wusste im Grunde ihrer Seele, dass sie Lisa-Marie nie wiedersehen würde. Es hatte keinen Zweck, an ein Wunder zu glauben.
    Hella betäubte ihre Verzweiflung damit, immer neu darüber zu spekulieren, was mit ihrem Enkelkind geschehen sein könnte.
    »Sieh mal«, sagte sie zu Leonie, »kein Mensch stiehlt ein Neugeborenes aus dem Krankenhaus, um es umzubringen. Das ist Blödsinn. Insofern können wir ziemlich sicher davon ausgehen, dass Lisa-Marie lebt. Und das ist doch schon mal ungemein tröstlich.«
    Leonie nickte brav, aber sie fand diesen Gedanken überhaupt nicht tröstlich. Lisa-Marie lag nicht in ihrem Arm – das war das einzig Entscheidende.
    »Wahrscheinlich hat dieser Mann Lisa-Marie für seine Frau gestohlen. Weil seine Ehe kinderlos ist. Seine Frau ist seit Jahren vollkommen verzweifelt, sie ist depressiv, hat schon zweimal versucht, sich umzubringen, was weiß ich. Er konnte es einfach nicht mehr aushalten und hat es gewagt, sich als Arzt auszugeben und das Kind zu holen. Es war ein Risiko, und er hat es geschafft.«
    »Bitte, Hella, hör auf!« Leonie war plötzlich furchtbar schwindlig.
    »Ich wollte damit nur sagen«, fuhr Hella fort, »wenn die Frau dieses Mannes Lisa-Marie hat, dann wird sie sich rührend um sie kümmern. Sie ist beschützt, sie ist gesund, es wird auf sie aufgepasst, verstehst du?«
    Leonie nickte erneut und schwieg.
    »Die Polizei wird sie finden und bringt sie dir wohlbehalten zurück. Da bin ich ganz sicher.«
    »Hör auf!«, schrie Leonie plötzlich schrill, und Hella zuckte zusammen. »Hör auf, mich mit diesem Schmus vollzulabern! Sie ist weg, und sie kommt nicht wieder! Kapierst du das nicht? Ich bin keine Fünfjährige, der du ein Märchen erzählen kannst, damit die schwarzen Männer aus ihren Träumen verschwinden. Und schließlich nimmt sie das Däumchen und schläft friedlich ein! Hella, komm zu dir! Seit zwei Tagen versuchst du, mir Hoffnung zu machen, und das macht es nur noch schlimmer, weil es so verdammt dumm ist! Nur ein Vollidiot kann an all das glauben, was du erzählst! Weißt du, was das bedeutet, was du mir sagst? Kapierst du das? Ich seh mein Kind nie wieder! Wenn es ein Kidnapper entführt hätte und eine Lösegeldforderung stellen würde, dann wüsste ich, es ist ein Pfand. Ich habe eine Chance, es für irgendeine Summe X zurückzukaufen. Es hat einen Wert für den Verbrecher. Aber so verschwindet meine Tochter auf Nimmerwiedersehen in irgendeiner Familie bei einer geistesgestörten Frau! Die meldet sich nicht, und die gibt es auch nie wieder her! Ist das denn so schwer zu verstehen?«, brüllte Leonie.
    Hella war wie vor den Kopf geschlagen. Das ist nicht fair, dachte sie, jetzt wird Leonie gemein. Ich hab es schließlich nur gut gemeint.
    Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen, aber sie unterdrückte sie, wollte jetzt nicht weinen.
    Leonie konnte sich nicht beruhigen. »Irgendeine Frau auf dieser Welt läuft jetzt froh und glücklich mit einem Kinderwagen durch die Gegend, und alle bewundern ihr Baby. Natürlich macht sie das nicht da, wo alle Welt sie kennt und es den Nachbarn auffallen würde, dass sie keinen Bauch hatte. Nein, so bescheuert ist sie nicht. Wahrscheinlich zieht sie gerade in eine neue Wohnung und verkauft Lisa-Marie allen als ihr kleines süßes, neues Kind! Und meldet es auch noch offiziell beim Amt an. Muss ja alles seine Ordnung haben. Niemand wird je Verdacht schöpfen. Deine kleine Enkelin ist weg, Hella, sie haben die Tochter deines Sohnes einfach mitgehen lassen, und du wirst sie nie auf den Knien haben und mit ihr Hoppe, hoppe, Reiter spielen können! So sieht es nämlich aus! Und jetzt lasst mich alle in Ruhe!«
    Damit rannte sie aus dem Raum und warf die Tür zu, dass das Krachen durchs ganze Haus zu hören war.
     
    Die Regionalnachrichten um neunzehn Uhr dreißig brachten ein Bild von Leonie und Lisa-Marie, das Hella kurz nach der Geburt aufgenommen hatte. Darauf eine strahlende Leonie und in ihrem Arm ein Säugling mit rotem

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