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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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für Yvonne immer noch keinen Kindergartenplatz bekommen. Und eine Tagesmutter konnte sie sich nicht leisten.
    »Mami kommt bald wieder, ja?« Yvonne fing an zu weinen. »Ich beeil mich. Heute Nachmittag bin ich wieder da!« Sie schloss ihre dreijährige Tochter in die Arme, und Yvonne krallte sich mit ihren winzigen Ärmchen fest in Tillies Jacke.
    »Mein Gott! Jeden Tag dasselbe Drama, das geht einem ja auf die Nerven«, knurrte Tillies Mutter.
    Tillie umarmte ihre Mutter widerwillig. »Bitte, sei nett zu ihr und pass gut auf sie auf!«
    »Ja, ja, ja, ja. Was soll ich denn sonst tun?«
    »Tschüss, ihr beiden.« Tillie küsste ihre kleine Tochter Yvonne noch einmal und versuchte nicht zu weinen. Dann ging sie, winkend und lächelnd, aber ihr Herz war so schwer wie ein Stein.
    Als sie sich ins Auto setzte, um zur Klinik zu fahren, fühlte sie sich schon so erschöpft, als hätte sie den langen Arbeitstag bereits hinter sich.
    Es war zwanzig Minuten vor sieben, und im Autoradio kam ihr Lieblingssong von Melanie C, The first day of my life , der es schaffte, sie wenigstens ein paar Minuten von ihren Sorgen abzulenken.
    Um sieben Uhr war auf der Säuglingsstation Schichtwechsel. Die Nachtschwestern gingen nach Hause und übergaben die Station der Frühschicht.
    »Ein Neuzugang in Zimmer fünf«, sagte Schwester Helga zu Tillie, »Leonie Altmann, fünfundzwanzig Jahre, verheiratet, Erstgebärende. Sie kam heute Nacht selbstständig in Begleitung ihrer Schwiegermutter. Hatte bereits regelmäßige Wehen, alle drei Minuten. Vor einer halben Stunde hat sie ein kleines Mädchen geboren. Lisa-Marie soll sie heißen, das hatte sie sich wahrscheinlich schon lange überlegt. Mutter und Kind sind wohlauf, wie es aussieht, ist das Kind gesund, die Hebamme ist noch bei ihr und macht die Erstuntersuchung.«
    »Ach, wie schön!« Zum Glück begann der Morgen gleich mit einer guten Nachricht. Das war auch einer der Gründe, warum Tillie unbedingt Kinderkrankenschwester hatte werden wollen. Da bekam sie es nicht nur mit Krankheit und Tod zu tun, sondern erlebte immer wieder Glücksmomente, wenn ein Kind geboren wurde. Und es war für sie jedes Mal wieder ein Wunder.
    »Hier ist die neue Akte«, meinte Helga noch, legte sie auf den Tisch und stand auf. »Ich mach mich auf die Socken, muss meinen Sohn in den Kindergarten bringen. Ich wünsch dir was!«
    »Ich dir auch!«
    Tillie blätterte kurz in der Akte von Leonie Altmann und legte sie dann gedankenverloren wieder auf den Tisch. Sollte sie jetzt schon bei ihrer Mutter zu Hause anrufen, um wenigstens zu erfahren, ob Yvonne aufgehört hatte zu weinen? Oder wartete sie lieber noch ab, bis sie ein, zwei Kaffee getrunken und ihre erste Runde gemacht hatte? Schweren Herzens entschied sie sich zu warten, es war schließlich besser, die Sorgen zu ertragen, als ihre Mutter noch mehr zu verärgern, was dann letztendlich Yvonne ausbaden musste.
     
    Jonathan erwachte um zehn und fluchte innerlich. Das Frühstück in dieser lausigen Pension war gerade vorbei, aber er hatte den Schlaf gebraucht. Für das, was er vorhatte, benötigte er seine ganze Konzentration.
    Um sieben war er schon einmal aufgewacht. Völlig zerschlagen und mit zentnerschwerem Kopf, als habe er die Nacht durchgesoffen. Er schleppte sich zur Toilette und spürte, dass er beim Schlucken Schmerzen hatte. Verdammt nochmal, es hat mich erwischt, es hat mich also wirklich erwischt.
    So schnell wie möglich verkroch er sich wieder im Bett und hoffte beim Einschlafen, dass ein Wunder geschehen und er die drohende Erkältung wegschlafen könnte, aber als er aufwachte, hatte er nicht nur Hals-, sondern auch Kopf-und Ohrenschmerzen.
    Er ging schnell ins Bad und duschte sehr heiß und sehr lange. Danach fühlte er sich wesentlich besser, kochte sich einen Tee und war schließlich davon überzeugt, die Kraft zu haben, die Erkältung wegzudrücken. Schließlich musste er nun keine Nächte mehr in der Kälte verbringen.
    Um elf rief er bei Engelberts Witwe, Ingrid Kerner, an. Er hatte erwartet, eine gedämpfte und immer noch von Trauer erfüllte Stimme zu hören, aber sie war erschreckend laut und aufgekratzt.
    »Nein!«, rief sie. »Sie? Wie geht es Ihnen?«
    »Gut. Danke. Aber eigentlich wollte ich mich erkundigen, wie es Ihnen geht?«
    Sie wurde ruhiger, als fiele ihr erst in diesem Moment ihr Schicksal wieder ein. »Besser. Danke. Ich gewöhne mich allmählich an den Zustand, allein zu leben. Es ist schwer, aber es geht. Und Sie? Von wo

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