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Der Menschenspieler

Der Menschenspieler

Titel: Der Menschenspieler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Lavender
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im Zimmer und beobachtete den großen Professor beim Atmen. Selbst hier, mit seinem Rücken zu ihr, umgab ihn eine Aura der Grausamkeit. Es war jetzt schlimmer. Vermutlich, dachte sie, weil er wusste, dass sie ihn brauchten. Sie brauchte ihn.
    »Erzähl«, sagte er.
    »Der Grund, warum ich heute Morgen zu Ihnen gekommen bin, ist …« Aber sie brachte es nicht über die Lippen. Sie spürte, wie er sie beobachtete, selbst als er sich wegdrehte, er sah in ihr nicht die ordentliche Professorin der vergleichenden Literaturwissenschaft, sondern die unsichere Studentin, die sie früher gewesen war. Ein Kind.
    »Du hast es noch nicht akzeptiert«, sagte er. »Die Tatsache, dass es wieder geschehen ist.«
    »Sie irren sich.« Aber es klang schwach, leer.
    Der Professor sah unablässig ihrem Spiegelbild im Fenster in die Augen. »Michael ist tot. Er ist tot, und du kannst jetzt nichts mehr daran ändern.«
    Die Worte, ihre Endgültigkeit, schockierten sie. Sie sah weg.
    »Erinnern Sie sich an ihn?«, fragte sie.
    Einen Augenblick, dann: »Nicht besonders.«
    Aber natürlich tat er das. Dr. Michael Tanner, Professor für moderne Literatur am Jasper College, unterrichtete an seiner Alma Mater. Michael hatte vor fünfzehn Jahren zusammen mit ihr den Abendkurs besucht. Sie erinnerte sich sogar noch an seinen Sitzplatz: vorn rechts, nicht weit vom Bildschirm entfernt.
    »Der Mord«, sagte er. »Wie die anderen, nehme ich an.«
    »Ja, aber anders.«
    Er sah auf, sein Interesse war geweckt. »Inwiefern?«
    »Dieser Mord war vorsichtiger ausgeführt als die ersten zwei. Kontrollierter.«
    »Gibt es Verdächtige?«
    »Niemanden«, sagte sie, dann fügte sie hinzu: »Aber auf dem Campus wird getratscht.«
    »Erzähl weiter.«
    »Manche glauben, es könnte seine Frau gewesen sein«, sagte sie, womit sie Sally Tanner meinte, geborene Mitchell, eine weitere Studentin des Abendkurses. Alex hatte sie sich nie mit Michael zusammen vorstellen können, hätte nie gedacht, dass sie fünfzehn Jahre später verheiratet wären und in Jasper unterrichteten. Aber es hatte so viele Dinge gegeben, die sie übersehen hatte. »Sally hat die Leiche entdeckt. Und bei der zeitlichen Abfolge, die sie der Polizei genannt hat, gibt es einige Unstimmigkeiten.«
    Ein Moment verging, dann überlegte er: »Und dann haben die Behörden dich kontaktiert.«
    »Das haben sie.«
    »Wieso?«
    »Ich denke, Sie wissen, warum.«
    Der Professor sah langsam zu ihr. »Es liegt nicht daran, dass du dich hervorragend mit den Feinheiten der Literatur auskennst. Mir fallen viele andere Professoren ein, die die Symbolik dieses Verbrechens besser interpretieren könnten, und natürlich gibt es eine literarische Symbolik, sonst hättest du mich heute Morgen nicht angerufen. Das wissen wir beide.«
    »Professor«, seufzte sie. »Hören wir auf mit den Spielchen. Wenn Sie mir nicht helfen können, gut. Aber wenn Sie mir helfen können, dann …«
    »Uns.«
    »Wie bitte?«
    »Wenn Sie uns nicht helfen können, Alexandra. Du hast Vorgesetzte in Jasper, jetzt, wo sie dich gerufen haben, um wieder mal Detektivin zu spielen, nicht wahr? Und ich bin mir sicher, dass du auch welche an der Universität hast, an der du im Moment unterrichtest. Ich habe es vergessen, welche ist es noch mal?«
    Alex schwieg. Er wusste, dass sie in Harvard unterrichtete.
    »Du hast dort Männer über dir.«
    »Und Frauen.«
    »Aber vor allem Männer. Ich habe sie gesehen. Arrogante Trottel. Wenn sie einen Raum betreten, hält sich jeder von denen für den intelligentesten dort, jedes Mal. Ich bin einmal nach Cambridge gefahren, bevor mein Lächeln perfektioniert worden war. Es war eine Preisverleihung zu meinen Ehren, aber niemand schien mich ansehen zu wollen. Sie waren eingeschüchtert. Vielleicht hatten sie Angst.«
    Sie sagte nichts.
    »Sind sie von dir eingeschüchtert, Alexandra?«
    Immer noch nichts.
    »Von dir und deinen Fick-mich-Schuhen?«
    »Das war’s.«
    Sie drehte sich um, nahm ihre Tasche und ging zur Tür hinaus. Im Haus war es jetzt zu dunkel, die Sonne versteckte sich draußen hinter einer Wolke. Sie fand sich nicht zurecht. Alles, was sie sah, waren Bücher und Bücherschatten, Stapel lehnten überall, fielen fast um und drängten aus den Wänden. Die Zimmer waren wie ein Nautilus mit Räumen, die sich spiralförmig nach außen und übereinanderstapelten. Sie ging durch das Labyrinth, verfluchte sich, weil sie hergekommen war, weil sie geglaubt hatte, der Professor könnte ihr Antworten

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