Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der menschliche Körper

Der menschliche Körper

Titel: Der menschliche Körper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
Vom Netzwerk:
einen sind die Freunde, die dich gern anders hätten, und die anderen wollen dich immer gleich. Irene gehört zweifellos zur zweiten Sorte. «Jedenfalls nein», fährt sie fort. «Ich bin nicht im Besitz
dieser Informationen
, wie du dich ausdrückst. Aber ich gebe zu, es ist mir nicht entgangen, dass dein Ringfinger noch frei ist.»
    Ihrer ebenfalls, bemerkt Egitto. Er überrumpelt sie, um ihr keine Gelegenheit zu geben, die Angelegenheit zu vertiefen. «Ermittelst du eigentlich hier?»
    «Sagen wir mal so, ich mache eine Tour durch die Lager im Süden. Um zu sehen, wie die Dinge laufen.»
    «Und wie laufen sie?»
    «Schlechter, als es den Anschein hat.» Nachdem sie das gesagt hat, wird sie einen Augenblick lang nachdenklich, ihre Miene verdüstert sich.
    «Das heißt?»
    Sie wendet sich wieder ihm zu, nun mit eisigem Gesichtsausdruck. «Alessandro, verzeih mir. Aber ich kann mit dir nicht die Einzelheiten meines Auftrags erörtern. Du weißt, ich habe Weisungen … von oben.» Sie macht eine flatternde Handbewegung.
    «Sicher», beeilt sich Egitto zu sagen. «Ich wusste nicht, dass du an diesem Einsatz beteiligt bist, das ist alles.»
    In Wirklichkeit ist er verärgert über Irenes anmaßende Art sowie darüber, sich eingestehen zu müssen, dass er neugieriger ist, als er zugeben will, Näheres über die Umstände zu erfahren, die sie nach Gulistan geführt haben, und über ihr Leben. Irgendwie ist er auch neidisch. Mit einem Mal wird da eine unangenehme, stillschweigende Übereinkunft zwischen ihnen fühlbar: Während Irene Sammartino eine geworden ist, die
Weisungen von oben
bekommt, hat er mit seiner mickrigen Offizierslaufbahn im Heer weitergemacht.
    «Du hast es weit gebracht, ich verstehe», sagt er.
    «Ach was, woher denn», entgegnet Irene gönnerhaft. «Ich bin nur eine Angestellte wie alle anderen auch.» Dann fährt sie fort, wie um ihm ein kleines Zugeständnis zu machen: «In den letzten Jahren habe ich jedenfalls Dari gelernt. Die Sprache fasziniert mich. So alt. Sie haben komplizierte und sehr elegante Wendungen, um die einfachsten Dinge zu sagen.»
    Seinerzeit hat Egitto es auch mit dem Dari aufgenommen, wie viele strebsame Kameraden. Er hat das Lehrbuch noch, in irgendwelchen Kisten, doch er ist über die Begrüßungsfloskeln nicht hinausgekommen. Irene dagegen muss die Herausforderung ernst genommen haben, sie war immer schon ein hartnäckiges Mädchen. Seine glänzende Mitschülerin im Sprachkurs hat die Früchte ihres entschlossenen Lernens zur Reife gebracht und hält sie ihm nun, duftend und fleischig, unter die Nase, als etwas für ihn Unerreichbares. Das funktioniert nicht bei allen so, denkt Egitto, der Baum der Erkenntnis bringt auch verschrumpelte und saure Früchte hervor.
    Irene zieht den Netzstecker des Computers heraus, als wäre es ihr Gerät und er nichts weiter als ein lästiger Störenfried. «Wenn es dir recht ist, nehme ich ihn mit rüber. Ich muss einen dringenden Bericht abschließen. Für uns ist das ein Desaster, sie nehmen sie uns aus Sicherheitsgründen immer wieder ab, sie müssen sie immer wieder … updaten. Es ist zum Verzweifeln. Wir sehen uns beim Mittagessen, wenn du willst.» Damit bemächtigt sie sich, ohne ihn um Erlaubnis zu bitten, mit dem ihr eigenen Ungestüm seines Laptops, wirft ihm eine Kusshand zu und verschwindet auf der anderen Seite der Plane. Baff, als ob man ihm eben das Pausenbrot vor der Nase weggeschnappt hätte, ist Oberleutnant Egitto wieder einmal nicht imstande, sich zu wehren.
     
    Ietri ist hochrot im Gesicht, seine Lippen sind aufgesprungen, sie haben dunkle Risse und zwei Klümpchen Speichel in den Mundwinkeln. Er ist konfus. Er hat Lust, sich zu übergeben, und ist müde wie noch nie in seinem ganzen Leben. Er wirft Rucksack und Helm auf den Boden, hängt sich an die Feldflasche und trinkt, bis ihm die Luft wegbleibt. Er spuckt auf den Boden.
    «Und? Habt ihr sie geschnappt?» Zampieri hielt die ganze Zeit Wache bei den Fahrzeugen, vermutlich hat sie sich die Finger blutig gebissen.
    Ietri schüttelt den Kopf und vermeidet es, sie anzusehen.
    «Was für Drecksäcke», kommentiert er.
    Er hat Angst gehabt, verdammte Angst, und jetzt weiß diese ganze Angst nicht, wo sie hinsoll, sie sitzt ihm in der Kehle. Er ist drauf und dran zu weinen, aber er kann nicht, er darf nicht, weil da die Kameraden sind und Zampieri vor ihm. Ist er ein Soldat oder nicht? War es nicht das, was er wollte? Hat er nicht dafür trainiert, ist er dafür nicht

Weitere Kostenlose Bücher