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Der menschliche Körper

Der menschliche Körper

Titel: Der menschliche Körper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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nicht?»
    «Ich kann nicht.»
    «Warum kannst du nicht?»
    «Mein Kopf ist leer.»
    Cederna schweigt einen Augenblick, Ietri fühlt seine Hand auf der Schulter. René macht ihm noch einmal das Zeichen, er soll die Tür eintreten.
    «Atme tief durch, Roberto», sagt Cederna. «Hörst du mich?»
    Er darf nicht sterben, nicht, solange seine Mutter am Leben ist. Sie hat schon so viel gelitten, die arme Frau. Roberto Ietris Leben gehört nicht Roberto Ietri, nicht ganz, ein großer Teil davon gehört seiner Mutter, und er kann sich nicht erlauben, ihr das zu nehmen. Das wäre ein Verbrechen, ein Sakrileg. Sein Kopf ist so leer. Der Schweiß rinnt ihm von der Stirn und in den Nacken, tritt unter den Achseln aus und läuft in die Kleider.
    «Mach tiefe, lange Atemzüge, okay? Tu nur das, atme. Das ist das Einzige, worum du dich kümmern musst. Es wird alles gut. Zähl bis fünf. Atme dabei. Tritt diese verdammte Tür ein und wirf dich dann zur Seite. Ich geb dir Rückendeckung. Hast du mich verstanden, Roberto?»
    Ietri nickt. Aber sein letzter Gedanke? Und seine Mutter? Zum Henker mit seiner Mutter.
    «Atme, Roberto.»
    Eins.
    Wie geht das? Erreicht einen zuerst der Knall des Schusses oder die Kugel? Das Intervall genügt sicher nicht, um aus der Schusslinie zu gehen. Aber vielleicht ist es für das Hirn ausreichend, um zu begreifen, um dem übrigen Körper mitzuteilen, das war’s, du bist tot.
    Zwei.
    Er bemerkt eine Bewegung am Rand seines Sichtfelds, links. Er wendet den Kopf und sieht ein weißes Licht aufleuchten.
    Drei.
    Das ist nur ein Stein, der die Sonnenstrahlen reflektiert. Er schaut nach vorn. Die Tür, die Tür, tritt die Tür ein.
    Vier.
    Er schließt einen Moment lang die Augen, macht einen Schritt zur Seite und tritt mit dem rechten Fuß. Das Holz gibt nach, fliegt auf, schlägt einmal zurück und bleibt dann schief in den Angeln hängen.
     
    Egitto kommt, den Schlafsack unter den Arm geklemmt, zurück zur Krankenstation und überrascht Irene dabei, wie sie in seinem Computer herumspioniert. Noch bevor er etwas sagen kann, zum Beispiel, wie zum Teufel sie das Passwort zu seinem Mailprogramm herausgefunden hat (was sie eben anschaut, ist ganz eindeutig die Maske seiner Mail) und dass sie es gefälligst sofort schließen soll, kommt sie ihm zuvor, indem sie mit engelsgleicher Stimme sagt: «Ich wusste ja gar nichts davon, dass du ein Kind gerettet hast. Der Kommandant hat es mir gesagt. Das ist wunderbar, Alessandro. Ich war gerührt.» Mit einer lässigen und schnellen Bewegung – aber nicht schnell genug – hat sie das Mailprogramm geschlossen und ein anderes Fenster geöffnet, das eine belanglose Dokumentenliste enthält. Sie dreht sich zu ihm um. «Dann bist du also eine Art Held.»
    Fassungslos angesichts von so viel Dreistigkeit, kommt Egitto nichts Besseres in den Sinn, als sich auf den Stuhl auf der anderen Seite des Tisches fallen zu lassen, wie ein Kunde in einem Reisebüro oder wie einer seiner Patienten. Der Schlafsack gleitet zu Boden. «Das würde ich nicht gerade sagen», erwidert er.
    Einverstanden. Wenn Irene bereit ist, darüber hinwegzusehen, dass er zum Schlafen in ein anderes Zelt gegangen ist und jetzt mit betretener Miene zurückkommt, wird er im Gegenzug dafür von ihr keine Rechenschaft für ihr plumpes Eindringen in seine Privatsphäre verlangen. Außerdem ist da ohnehin nichts Interessantes, was sie in seiner Post hätte entdecken können. Sie schließen diesen Pakt im Stillen und im Bruchteil einer Sekunde. Es gibt also noch einen Rest Einvernehmen zwischen ihnen.
    Irene runzelt die Stirn und sieht dem Oberleutnant mit großer Zärtlichkeit in die Augen. «Gestern habe ich es nicht mehr geschafft, es dir zu sagen, aber ich habe das mit deinem Vater gehört. Es tut mir sehr leid, Alessandro. Das ist schrecklich.»
    Diesmal kann Egitto seinen Ärger nicht unterdrücken. «Und dazu bist du hergekommen, um mir dein Beileid auszusprechen?»
    «Wie streng du bist. Immer in der Defensive.» Dann setzt sie in jovialem Ton hinzu: «Also lass doch mal hören, was du in all dieser Zeit so getrieben hast. Hast du geheiratet? Hast du jede Menge Kinder gezeugt?»
    «Ich habe den Eindruck, dass du bereits im Besitz dieser Informationen bist.»
    Irene schüttelt den Kopf. «Du bist immer noch derselbe. Du hast dich überhaupt nicht verändert.» War das ein Vorwurf? Oder bringt sie im Gegenteil ihre Erleichterung zum Ausdruck? Freundschaften lassen sich in zwei Kategorien einteilen, die

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