Der Meuchelmord
spiegeln begann. Die luxuriösen Hotels standen leer und hielten vor der Frühjahrssaison ihren Winterschlaf. Das berühmteste davon war das St. George, hauptsächlich deshalb, weil hier der Spion Philby gewohnt hatte. Sonnenschirme und bunte Liegestühle waren verpackt, und die Bambuspergola, unter der man bei der brütenden Sommerhitze so herrlich einen türkischen Mokka oder einen Gin trinken konnte, war ihrer grünen Blätterpflanzen beraubt und zitterte nun in der Kälte wie ein nackter alter Mann.
Ein Mann ging die steile Straße zum Hoteleingang hinunter, warf einen Blick auf die verlassene Terrasse und die kahlen Stangen der Pergola und stellte seinen Kragen hoch. Ein eisiger Wind wehte vom Meer herüber. Da er leicht gekleidet war, schritt er kräftiger aus. Vor dem Hoteleingang blieb er stehen und zündete sich eine Zigarette an.
Genauso war es ihm vorgeschrieben worden. Auch wenn die Anweisungen sinnlos klangen, er hielt sie exakt ein. Er hob nicht einmal den Blick, um sich davon zu überzeugen, ob ihn hinter den Glastüren des Hotels jemand beobachtete. Er wußte genau, daß er gemustert wurde. Er warf sein Streichholz weg und ging weiter. Gegen die Kälte schützte ihn zuerst das Hotel, dann die lange Reihe von Läden, in denen Schmuck und römische Antiquitäten für reiche Touristen feilgeboten wurden. Zweihundert Meter weiter lag eine überdachte Bushaltestelle. Er zitterte vor Kälte, als er sie erreichte.
Eine Frau stand wartend da. Sie trug den weißen Umhang aller armen Mohammedanerinnen, aber sie ließ ihn von ihrem Gesicht zurückfallen, als er näher kam. Ihre Wangen leuchteten rot, Lider und Augenbrauen waren angemalt wie bei einem Clown. Sie schenkte ihm das mitleiderregende Lächeln der Prostituierten und trug unter ihrem Gewand ein Minikleid von europäischem Schnitt. Ihre bloßen Beine waren vor Kälte blau angelaufen. Als sie ihn ansprach, beachtete er sie nicht einmal.
»Ich habe kein Geld, geh weg«, sagte er auf arabisch. Er fluchte nicht, und er spuckte sie nicht an, wie Männer es aus ihrem eigenen Volk zu tun pflegen, um ihre Ablehnung zu zeigen. Er war Europäer, ein kräftig gebauter Mann mit blauen Augen und einem Gesicht, in dem sich die verschiedensten Rassenmerkmale trafen. Er hätte ebensogut Pole oder Deutscher oder auch ein Franzose aus dem Elsaß sein können. Seine Name war Keller. Diesen Namen hatte ihm jedenfalls seine Mutter gegeben, als sie ihn im Waisenhaus ablieferte. Sein Vater war nach Ansicht der Nonnen ein Deutscher, aber sie wußten es nicht genau und hatten sich auch nie die Mühe gemacht, es herauszufinden. Ihm war das einerlei. Er war ein Mann ohne Gestern, ein Mann ohne Freunde, ausgestoßen aus der Gesellschaft, nur durch die christliche Nächstenliebe der Nonnen am Leben geblieben. Er war auch allein, als er später in die Welt hinausging und feststellen mußte, daß sich an der Einsamkeit, seiner ungewissen Herkunft und dem Anstaltsleben nichts änderte. Es wurde höchstens noch schlimmer. Er besaß keine Rechte, und niemand schützte den Jungen vor der brutalen Wirklichkeit eines Landes, in dem die deutsche Armee und alliierte Besatzungstruppen wüteten und wo man sich nur durch Umgehung der Gesetze am Leben erhalten konnte. Keller stand von Anfang an außerhalb des Gesetzes. Außerhalb der Gesellschaft, die sich dieses Gesetz gegeben hatte. Mit fünfundzwanzig ging er zur Fremdenlegion. Seit einigen Jahren war der Krieg vorbei, und die Polizei war ihm dicht auf den Fersen. Die Legion bedeutete für ihn keinen romantischen Zufluchtsort, kein Tor ins Abenteuer. Sie war nichts weiter als die letzte Möglichkeit eines Verzweifelten.
Er war froh, daß die heruntergekommene kleine Hure von ihm abließ. Sie stammte aus den dreckigen, überfüllten Flüchtlingslagern am Rand der Stadt. Sicher war sie halb verhungert und geschlechtskrank. Ob sie schon vierzehn war? Wahrscheinlich nicht. Es gab nicht viele von ihrer Sorte, da die libanesische Polizei gegen die Amateurprostitution energisch einschritt. Solche Mädchen schadeten dem Geschäft – dem blühenden Fremdenverkehr, den eleganten Hotels, der üppigen Schönheit der großen Metropole des Libanon.
Mit etwas Geld in der Tasche hätte Keller sich hier niedergelassen. Im Libanon war der Reichtum zu Hause, und wenn man von den Ölscheichs absah, residierten in den pompösen Stuckvillen oberhalb Beiruts einige der reichsten Leute dieser Erde.
Nach zehn Minuten sah er den Wagen auf der anderen
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