Der Meuchelmord
1
»Könnten Sie mir bitte die genaue Zeit sagen? Mir ist die Uhr stehengeblieben.«
Der Mann am Empfang schob die Manschette zurück und antwortete nach einem Blick auf seine Armbanduhr: »Ich habe 12 Uhr 25, Signorina Cameron.«
Er sah sie dabei mit einem bewundernden Lächeln an. Das Excelsior war das beste Hotel in Rom, und man wußte, was man seinen wohlhabenden Gästen schuldig war. Als Italiener zollte der Hotelangestellte aber auch der Schönheit der jungen blonden Amerikanerin seinen Tribut.
Er erinnerte sich noch genau an ihren letzten Besuch vor achtzehn Monaten. Damals war sie mit ihrer Mutter hier gewesen. Die beiden Frauen hingen offenbar sehr aneinander. Im Gegensatz zu vielen anderen wohlhabenden und einflußreichen Persönlichkeiten war Mrs. Cameron immer freundlich und höflich geblieben. Im Excelsior war sie als Dauergast seit vielen Jahren beliebt. So war man allgemein betroffen, als die Nachricht von ihrem Tod in den Zeitungen stand.
»Danke«, sagte Elizabeth Cameron. Sie stellte ihre Uhr. Bevor sie zum Flughafen fahren mußte, hatte sie noch eine Stunde Zeit. Draußen schien die Sonne, aber trotzdem hüllten sich die Damen in ihre Pelzmäntel. Was sollte sie tun? In der Halle warten? Wie vor jedem Flug war sie nervös und voll innerer Spannung.
»Ich glaube, ich gehe ein wenig spazieren«, sagte sie. »Es ist ein so schöner Morgen.«
Der Hotelangestellte sah ihr nach, wie sie durch die Halle schritt. Sie war nicht sehr groß, aber geschmeidig und selbstbewußt in ihren Bewegungen.
Ihre Art zu gehen gefiel ihm. Ihr Gang war zwar nicht so sexy wie bei einer Italienerin, aber die Leute drehten sich trotzdem nach ihr um. Die Bewunderung galt nicht nur einem schönen blonden Mädchen in einem sagenhaft teuren Tigermantel, sondern auch dem Umstand, daß es sich um Huntley Camerons Nichte handelte.
Elizabeth trat auf die Straße hinaus und kuschelte sich zum Schutz gegen die beißende Kälte noch tiefer in ihren Pelz. Es war ein herrlicher Morgen, klar, frisch und belebend, und die Sonne spiegelte sich in den Schaufenstern der Via Veneto mit ihrem romantischen Charme.
Elizabeth war gern in Rom. Rom war eine der wenigen Weltstädte, in denen sie sich nicht so allein fühlte. Eine ausgesprochen schöne Stadt, eine reizvolle Mischung aus strahlender Vergangenheit und aufregender Zukunft, eine Stadt, in der alles möglich war, in der man den Morgen noch gespannt entgegenblicken konnte. Sie bog nach rechts ab und ging den Hügel hinauf. Rom muß man sich zu Fuß erobern, dachte sie, oder zumindest in einem dieser kleinen, sündhaft teuren Einspänner, die bedächtig durch die Straßen zotteln. Nach dem Tod ihrer Eltern hatte sie überlegt, ob sie nicht hierher übersiedeln sollte, aber die Stadt war voll von glücklichen Erinnerungen – Erinnerungen an ihren ersten Besuch hier vor vielen Jahren, wo sie zusammen mit ihrer Mutter die architektonischen Kostbarkeiten in den engen Gassen entdeckt und zum erstenmal staunend vor dem Vatikan gestanden hatte.
Sie war auch hierhergekommen, um ihr erstes und einziges Liebeserlebnis zu überwinden. Ihre Mutter hatte mit Weisheit und gesundem Menschenverstand dafür gesorgt, daß Elizabeths verletzter Stolz wieder heilte. Ein Liebhaber – eine Enttäuschung. Eine ganz alltägliche Sache, und wenn sie nicht zuviel erwartet hätte, wäre ihre Welt wohl auch nicht aus den Fugen geraten. Als die Sache damals begann, war sie eigentlich schon alt genug, um nicht in jugendlichem Überschwang ein Abenteuer mit der großen Liebe zu verwechseln. Aber sie hatte sich dumm benommen. Es war schon dumm, sich von einem Mann wie Peter Matthews überhaupt verführen zu lassen, und noch dümmer, dann überrascht zu reagieren, als er bei der ersten Erwähnung einer Heirat plötzlich Fersengeld gab. Bei dem Gedanken an diese Affäre schritt sie unwillkürlich rascher aus und ärgerte sich über sich selbst. Das alles war vor fast vier Jahren, und sie hatte ihren Fehler von damals nicht wiederholt.
Es war doch kälter, als sie gelaubt hatte. Sie floh zu Donis, wo sie gemütlich in der Wärme sitzen und sich an einem italienischen Nationalsport beteiligen konnte: die bekannten Persönlichkeiten beobachten, die draußen vorbeigingen. Aber das Lokal war überfüllt. An jedem Tisch saß ein Pärchen, und plötzlich kam sich Elizabeth furchtbar allein gelassen vor. Sie hatte keine Lust mehr, da hineinzugehen und irgendwo allein in der Ecke zu sitzen. Sie überquerte die Straße
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