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Der Ministerpräsident - ein Roman

Der Ministerpräsident - ein Roman

Titel: Der Ministerpräsident - ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer , Meyer GmbH , Co.KG
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Und ich wusste es nicht. Doch je länger ich darüber nachdachte, desto größer wurden meine Erinnerungen. Ich erinnerte mich zum Beispiel an die Hand meiner Mutter, die mich nachts durch die Gitter eines Kinderbetts streichelte … Und ich erinnerte mich an ein Mädchen namens Andrea, die mit mir in dieselbe Klasse ging. Ohne dass sie mich deshalb all die Jahre beachtet hätte. Trotz meiner Blicke. Eines Tages fragte sie mich, ob ich zu ihr nach Hause kommen würde, um mit ihr für eine Klassenarbeit in Mathematik zu üben. Und ich wollte – gerne, doch kam ich viel zu früh, da ich auf keinen Fall zu spät sein wollte. Als sie mir öffnete, trug sie noch einen Bademantel. Sie hatte sich gerade erst geduscht – derart früh war ich gekommen. Dass sie sich gleich anziehen werde, sagte sie. Doch wir setzten uns auf ein Sofa – und sie stellte mir sogleich Fragen, nicht nur zur Mathematik, sondern auch über mich. Wir saßen stundenlang. Und ich sah, je länger wir miteinander sprachen, wie sich ihr Bademantel immer mehr öffnete. Und sie tat nichts dagegen. Als wäre es kaum der Rede wert, dass sich ihr Bademantel immer weiter öffnete. Als wäre ich gar nicht da. Oder schon so lange bei ihr gewesen, dass es keine Rolle mehr spielte. Das war es, woran ich mich nun erinnerte: die gänzlich undramatische Gelassenheit dessen, was ich stets als hysterisches Geschrei erwartet hatte. Stundenlang saßen wir im Anblick ihres offenen Bademantels.
    Erinnerungen.
    Ich fragte Frau Wolkenbauer, ob ich im Klinikpark spazieren gehen dürfe, und sie gab mir die Erlaubnis. Sie schaute sogar aus dem Fenster, um zu sehen, ob meine Frau noch zu sehen war. Sie war gegangen. Also ging ich nach unten. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, ohne Gehhilfen zu gehen. Vielleicht wirkte mein Gang in der Tat ein wenig unwirklich. Wackelig und eckig. Ohne Zug nach vorne. Ich spürte die Blicke der Ärzte, der Pfleger und der Patienten. Sie beäugten mich. Und meinen Gang. Seht nur. Wie er geht. So sprachen diese Blicke. Sehen Sie nur, wie er geht. Eher ein Trippeln als ein Gehen. Ein Hinken und Einsinken. Ein trauriger Anblick. Ohne das direkt auszusprechen. Aber in wechselseitigen Blicken zu erkennen gebend. Kommentarlose Blicke. Oder tiefblickende Kommentare: Geht es noch? Aus dem Augenwinkel in meine Seite gesprochen. Oder blind in die Gegend gefragt. Geht es noch?
    März eilte mir zur Hilfe. Er hielt die anderen Patienten auf Distanz. Für ihn war das ein Schreckbild. Mitpatienten stützen Urspring. Urspring, der Sportler, der Athlet, der Wanderer – gehbehindert. Er schickte sie davon. Es gebe jetzt keine Autogramme, sagte er. Kein Mensch hatte mich um ein Autogramm gefragt. Doch März schob all das (selbst mein Hinken) auf die Gier der Menschen nach Autogrammen. Es gibt jetzt keine Autogramme! Er führte mich wieder ins Innere der Klinik und sagte: Es wäre tatsächlich besser gewesen, meine Gehbehinderung mit einer Krücke offen einzugestehen als sie in falschen Laufbewegungen zu übergehen. Ich sollte in Zukunft mit einer Krücke in der Öffentlichkeit gehen. Jedenfalls fürs Erste.
    Er war hin- und hergerissen – zwischen Krücke und nicht Krücke. Krücke bedeute: klare Verhältnisse, offenes Eingestehen meines Zustandes, sogar noch einen Hauch einstiger Sportlichkeit. Immerhin gebe es Sportler, die an Krücken gehen. Jedenfalls vorübergehend. Andererseits bedeute Krücke – zumindest eine Krücke über längere Zeit: eine nur langsam voranschreitende Rekonvaleszenz, Rückschläge, Verschleppungen, Komplikationen … Und vieles mehr.
    Er telefonierte und telefonierte, lenkte alle Fragen zunächst einmal weg von meinem Bein. Er versicherte: Mein Sprachverlust in politischen Dingen sei nur minimal. Er sei nach wie vor zuversichtlich. Es gehe mir täglich besser. Viel besser als noch vor zwei Wochen.
    Es hatte sich Besuch angekündigt. Gerhard Zix. Zix, der Fraktionsvorsitzende. Zix, der Finanzminister in spe. Zix, der Parteifreund. Feind, Todfeind, Parteifreund. Das sei Zix. Er wolle nach Heiligenberg kommen und sich ein Bild machen. Ein Bild von mir und meiner Lage. Noch vor dem Landesparteitag. Ausgerechnet Zix. Er wolle mit mir sprechen. So März. Das sei scheinheilig, jedoch unvermeidlich. Ich müsse einige Worte mit Zix wechseln. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und März besprach sich mit den Ärzten: Wo ich Zix am besten empfangen könnte? Nicht im Krankenbett, so März. Jede Andeutung von Bettlägerigkeit wäre im

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