Der Ministerpräsident - ein Roman
glaubte ich, diese Stille zu kennen. Eine Stille, die eintritt, weil man nicht mehr weiterweiß, weil man nicht mehr weiß, was man als Nächstes sagen könnte. Oder sagen sollte. Weil jedes weitere Wort vergeblich oder sogar gefährlich wäre. Eine Stille kurz vor dem Streit. Oder kurz nach einem Streit. Deshalb also diese Stille.
Sie hinterließ mir eine Illustrierte. Auf der Titelseite war ein Foto zu sehen. Claus Urspring. Alles über seinen Unfall. Auf Seite sieben. Unfall eines Ministerpräsidenten. Am Montag schneite es bis spät in die Nacht. So begann der Artikel. Ministerpräsident Urspring ist mit seinem Dienstwagen trotz starken Schneetreibens im Hochschwarzwald Richtung Freiburg gefahren – zu einem Parteitermin. Man fragt sich, warum sein Chauffeur nicht bei ihm war, warum Urspring den Wagen lieber allein steuern wollte. Vielleicht weil er ein leidenschaftlicher Fahrer ist.
In einer engen Kurve durchbrach Urspring die Leitplanke der Straße und stürzte mit seinem Wagen einen Abhang hinab. Er überschlug sich unzählige Male. Man fand ihn bewusstlos in seinem zertrümmerten Wagen – nur wenige Meter neben einer Schlucht. Es dauerte Stunden, bis er aus dem Wrack geborgen werden konnte. Ein Rettungshubschrauber brachte ihn ins Heiligenberger Klinikum.
Gestern hat man ihn von der Intensivstation auf eine andere Station verlegt. Er ist bei Bewusstsein. Er empfängt erste Besucher. Er erkennt Freunde und Weggefährten. Er erkundigt sich nach seiner Familie. Seine Frau sitzt an seiner Seite. Auf der Straße sieht man noch immer Spuren des Unfalls. In einer Einfahrt stehen Kinder und winken.
Ich schlief.
März, der wieder ins Zimmer kam, brachte gute Nachrichten. Zix habe im Landtag erklärt, dass mein Zustand zufriedenstellend sei. Zufriedenstellend. Welch ein zähneknirschendes Wort, so März. Zix werde mich auf dem Landesparteitag empfehlen. Empfehlen. Was seien das für Einsilbigkeiten, erklärte März. Dass ich, so habe Zix behauptet, auf dem Landesparteitag persönlich erscheinen würde – für März eine Infamie. Völlig undenkbar, so März, dass ich bereits auf dem Landesparteitag persönlich erscheinen könne. Und Frau Wolkenbauer pflichtete ihm bei. Dass ich frühestens in zwei Monaten wieder arbeitsfähig sei. Sie könne allenfalls einer vorab aufgezeichneten Ansprache an die Delegierten zustimmen, was März dankend aufnahm. Eine Aufzeichnung.
Er habe deshalb im Schwesternwohnheim neben der Klinik ein provisorisches Tonstudio einrichten lassen. Ich müsse so bald wie möglich öffentlich in Erscheinung treten und einige Reden halten. Nicht viele Reden, aber deutliche Reden: Reden an die Partei, Reden an die Öffentlichkeit … März sprach von den Möglichkeiten digitaler Stimmbearbeitung. Hannah werde das machen. Sie sei eine hervorragende Redenschneiderin. Die Beste weit und breit. Ihre Fähigkeiten seien mannigfach. Er meinte tontechnische Fähigkeiten, aber auch sprachliche Fähigkeiten. Dass man womöglich sogar einen schwäbischen Akzent ins Klangbild einbauen könne. All das und vieles mehr sei mittlerweile tontechnisch möglich.
Ein Pfleger brachte mich zum Tonstudio. Hannah öffnete und bat mich hinein. Sie entschuldigte sich für herumliegende Kabel und Gegenstände. Das alles sei noch provisorisch. Das Tonstudio und ihre privaten Dinge, die noch in einer Reisetasche lagen. Sie sagte: Hier arbeite ich also. Ausgerechnet in einem Schwesternwohnheim. Die Akustik sei miserabel. Wie März sich das vorstelle, hier zu arbeiten. Sie öffnete einen Koffer. Dort befand sich ein Mischpult, das sie nun herausholte. Das ist ein Mischpult, sagte sie. Falls Sie so etwas noch nicht gesehen haben.
Um irgendetwas zu sagen, lobte ich die vielen Knöpfe. Welche Knöpfe? Ich meinte die Knöpfe und Hebel des Mischpults. Sie antwortete: Sie machen sich über mich lustig – und bereitete ein Mikrophon vor. Ich fragte, ob sie mit diesem Pult ihre Reden schneidere? Sie schneidere keine Reden, so ihre Antwort, sie schneide Reden. Das sei ein Unterschied. Und sie schneide die Reden auch nicht mit einem Mischpult, sondern auf dem Computer.
Ich sollte irgendetwas sprechen, nicht zu ihr, sondern ins Mikrophon. Sprechen Sie. Mir fiel nichts ein. Es wird Ihnen schon irgendetwas einfallen. Doch ich saß sprachlos. Und Hannah sagte, sie habe so etwas noch nicht erlebt, dass einem Politiker, der ein Mikrophon sieht, nichts einfalle. Sie fand das wenigstens ehrlich. Sprechen Sie. Ich sprach – in ihre Richtung:
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