Der Modigliani Skandal
Roulette. Wie meist ist die Wahrheit kompliziert. Zwar sind es Mechanismen, die wir nicht beherrschen - und manchmal nicht einmal verstehen -, welche das Schicksal eines Menschen bestimmen, doch können die Entscheidungen, die er trifft, Folgen haben, wenn auch vielleicht nicht die von ihm erwarteten.
In Der Modigliani Skandal versuchte ich, eine neue Art von Roman zu schreiben: einen Roman, in welchem die individuelle Freiheit einem stärkeren Gesamtmechanismus auf vielfältigste Weise untergeordnet bleibt. Dieses unbescheidene Projekt zu realisieren ist mir nicht gelungen. Möglicherweise kann ein solcher Roman überhaupt nicht geschrieben werden: Mag's im Leben auch nicht um individuelle Entscheidungen gehen, so vielleicht doch in der Literatur.
Was ich schließlich zu Papier brachte, war ein Krimi eher heiteren Charakters, in dem eine Anzahl von - meist jungen -Menschen allerlei Wagnisse unternimmt, von denen keins so ganz den erwarteten Ausgang nimmt. Die Kritiker priesen den Roman als munter, sprudelnd, beschwingt, leicht, überschäumend und - abermals - leicht. Ich war darüber enttäuscht, daß sie meine ernsten Intentionen nicht bemerkt hatten.
Inzwischen betrachte ich das Buch nicht länger als Fehlschlag. Es hat etwas Überschäumend-Durcheinandersprudelndes, und das nicht zu seinem Nachteil. Die Tatsache, daß es so ganz anders ist als das Buch, das ich eigentlich schreiben wollte, hätte mich nicht verwundern sollen - ist doch gerade dies ein Beweis für meine Behauptung.
Ken Follett, 1985
Erster Teil
Grundieren der Leinwand
»Man heiratet die Kunst nicht. Man nimmt sie.«
Edgar Degas, Impressionist, Maler
1
Der Bäcker kratzte sich mit mehlbestäubtem Zeigefinger am Schnurrbart, so daß sich seine schwarzen Haare grau färbten und er plötzlich zehn Jahre älter aussah. In den Regalen rings um ihn stapelten sich frische, krustige Brote, und der vertraute Geruch füllte seine Nasenlöcher und ließ seine Brust anschwellen in ruhig-zufriedenem Stolz. Es war ein neuer Schub Brot, der zweite an diesem Morgen: Das Geschäft ging gut, weil das Wetter schön war. Wenn die Sonne schien, zog es die Pariser Hausfrauen unwiderstehlich zu seinem Laden, zu seinem ausgezeichneten Brot.
Er blickte durch das Ladenfenster hinaus, seine Augen blinzelten im blendend hellen Licht. Ein hübsches Mädchen überquerte die Straße. Der Bäcker lauschte: Von hinten erklang die schrille Stimme seiner Frau, die einen Lehrling herunterputzte. Das würde noch minutenlang so gehen, wie stets - also war er vor ihr sicher, und so gönnte er sich ein paar lüsterne Blicke auf das hübsche Mädchen.
Sie trug ein dünnes ärmelloses Sommerkleid, das nicht gerade billig zu sein schien; allerdings kannte sich der Bäcker in solchen Dingen wenig aus. Anmutig bauschte sich der Rock in halber Höhe ihrer Oberschenkel, was ihre schlanken, nackten Beine besonders zur Geltung brachte und lohnende Blicke auf weibliche Unterwäsche verhieß - eine unerfüllte Hoffnung.
Für meinen Geschmack ist sie allzu schlank, befand er, während sie näher kam. Ihre Brüste waren sehr klein - trotz ihrer langen, selbstsicheren Schritte hüpften sie kein bißchen. Selbst nach seiner zwanzigjährigen Ehe mit Jeanne-Marie zog der Bäcker ihre großen, wenn auch etwas schlaffen Brüste entschieden vor.
Das Mädchen betrat den Laden, und der Bäcker sah, daß sie keine Schönheit war. Ihr Gesicht war lang und dünn, ihr Mund wirkte klein und eher spröde, und ihre Schneidezähne standen ein wenig vor. Sie hatte braunes Haar, doch war die oberste schicht von der sonne ausgeblichen.
Sie wählte eine der Baguettes auf dem Ladentisch aus, prüfte die Kruste mit ihren langen Händen und nickte zufrieden. Nein, keine Schönheit, dachte der Bäcker, jedoch unbedingt begehrenswert.
Sie hatte einen Teint wie Milch und Blut, und ihre Haut wirkte weich und glatt. Was indes die Blicke auf sie lenkte, war ihre Haltung: selbstsicher, selbstbewußt. Diese verriet der Welt, daß die junge Frau genau das tat, was sie tun wollte, und nichts sonst. Der Bäcker verbot sich solche Spitzfindigkeiten: Sie war sexy, und das war alles.
Er bewegte die Schultern, um das Hemd zu lockern, das ihm am schweißnassen Rücken klebte. »Chaud, hein?« sagte er.
Das Mädchen entnahm ihrer Börse ein paar Münzen, um das Brot zu bezahlen. Sie lächelte über seine Bemerkung, und plötzlich war sie schön. »Le soleil? Je l'aime«, sagte sie und ging zur Ladentür. »Merci!«
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