Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
Trois Baudus auf dem Stadtplan gesucht und zu seinem Erstaunen festgestellt, dass sie fast gegenüber dem Musikgeschäft in der Rue du Château du Roi lag, dem Laden, in dem er gewöhnlich seine Gitarrensaiten kaufte. Die «Rue» war streng genommen nicht mehr als eine schmale Gasse, und so war sie ihm nie aufgefallen. Ein Stück weiter die Straße hinauf befand sich im Château du Roi das alte Gefängnis. Auf dem Tour des Pendus ganz oben auf dem Hügel hatten sie einst vor aller Augen die Gefangenen gehängt. Die Rue des Trois Baudus dagegen nahm er jetzt zum ersten Mal bewusst wahr.
Sein Arztbesuch war reine Routine gewesen. Die übliche jährliche Untersuchung, die ihm noch nie Anlass zur Sorge gegeben hatte. Tatsächlich meldete sich die Praxis immer nur bei ihm, um den Termin fürs nächste Jahr abzusprechen. Und so hatte ihn der Brief wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen, eine Nachricht, die nichts Gutes bedeuten konnte – ein Termin bei einem Facharzt, um seine Untersuchungsergebnisse zu besprechen.
Enzo atmete tief durch, als er die Straße hinaufging und an der Ecke die Apotheke sowie kurz dahinter das Musikgeschäft von Alain Pugnet passierte, bevor er in die Rue des Trois Baudus einbog. Er hatte «baudu» im Wörterbuch nachgeschlagen, den Begriff jedoch nicht gefunden. Vielleicht war es ja ein Name. Einige der Hauswände und ein Spender für Hundekotbeutel waren mit Graffiti besprüht. Die Beutel schien in ganz Cahors ohnehin niemand zu verwenden.
Die Gasse war eng und menschenleer. An den Häusern waren die Fensterläden geschlossen, und nur ein schmaler Streifen kaltes Winterlicht drang vom Himmel bis in die feuchte Dunkelheit darunter. Nummer 24 a befand sich auf der rechten Seite, hinter einem Torbogen aus Backstein. Die Tür war aus heller, beschlagener Eiche, rechts davon befand sich ein vergittertes Fenster. Als er das auf Hochglanz polierte Praxisschild an der Wand sah, drehte sich Enzo der Magen um.
Docteur Gilbert Dussuet
Onkologe
Unter dem Klingelknopf stand in kleiner Schrift: Bitte klingeln und eintreten. Enzo folgte der Aufforderung und öffnete die Tür zu einem engen Wartezimmer mit vier Plastikstühlen und einem kleinen Tisch, auf dem sich alte Zeitschriften stapelten. Ihm stieg ein muffiger Kellergeruch in die Nase. Natürliches Licht gab es keins, nur eine nackte Glühlampe an der Decke. Er setzte sich auf den Stuhl direkt neben dem Eingang, vage hoffend, vielleicht doch noch fliehen zu können, und wartete.
Als sich endlich die Tür zum Sprechzimmer des Arztes öffnete, kannte Enzo jeden Fleck und jeden Kratzer des verblichenen Linoleums im Wartezimmer, hatte sich jedes Poster an der Wand mehrfach durchgelesen und eingeprägt. Ermahnungen, sich regelmäßig selbst nach Hoden- respektive Brustkrebs abzutasten. Dringende Warnungen vor Melanombildung, wenn man keinen Sonnenschutz benutze. Nichts davon war dazu angetan, Enzos düster-ahnungsvolle Stimmung aufzuhellen.
Dr. Dussuet war jünger als erwartet, vielleicht Ende dreißig, Anfang vierzig. Er hatte markante, etwas raue Züge und ein gewinnendes Lächeln. Er schüttelte Enzo die Hand und führte ihn in sein Allerheiligstes, ein spärlich eingerichtetes Sprechzimmer. Ein paar Aktenschränke, ein Schreibtisch, ein paar Stühle. Auch hier hingen an den Wänden Plakate, und obwohl ohnehin nur wenig Licht von der Straße hereindrang, waren die Jalousien heruntergelassen. Eine Schreibtischlampe warf einen grellen Lichtkegel auf die polierte Platte, und die beiden Männer setzten sich einander gegenüber. Auf einer Unterlage mit Löschpapier lag eine geöffnete Akte mit Enzos Namen am oberen Rand.
Der Arzt würdigte sie keines Blicks, sondern stützte die Ellbogen auf und verschränkte die Hände. Mit einer erprobten Mischung aus Anteilnahme und Bedauern sah er Enzo eindringlich an.
«Wissen Sie, aus welchem Grund Sie hier sind?»
Enzo schüttelte den Kopf. «Weil es schlechte Neuigkeiten gibt, nehme ich an.»
Der Arzt überlegte einen Moment, dann wandte er sich wieder seinem Patienten zu. «Sie haben eine sehr seltene Form von Leukämie, Monsieur Mackay.» Er schwieg. «Sie wissen, was Leukämie ist?»
«Blutkrebs.» Enzo hörte seine eigene Stimme, doch sie schien ihm fremd.
«Oder Knochenmarkkrebs. Charakteristisch ist die anormale Vermehrung weißer Blutkörperchen. Diese Zellen dienen dazu, Krankheitserreger zu bekämpfen, und sind gewöhnlich nur in Maßen vorhanden oder aber funktionsuntüchtig. Die
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