Der Mond ist nicht allein (H´Veredy Chroniken) (German Edition)
mittlerweile ständig in Bernds Schusslinie. Er konnte und wollte es offenbar nicht unterlassen, eigene Vorschläge zu machen und auf Missstände hinzuweisen, etwa wenn Verena nun wirklich nicht mehr weiter konnte. Doch Bernd verlangte Gehorsam, Loyalität und Unterwürfigkeit in einem Maße, das selbst Alexander sich nicht immer abringen konnte. Da Alex sich nicht entschließen konnte, Bernds Position grundlegend anzuzweifeln, gab er bei allen Auseinandersetzungen früher oder später klein bei, entschuldigte sich brav und ließ Bernd gewähren.
Am schlimmsten hatte es Mira getroffen. Bernd achtete peinlich genau darauf, sie stets in seiner Nähe zu halten und jeden Keim von Aufsässigkeit zu ersticken. Dabei wandte er mehr oder weniger die gleichen Methoden an, die er damals schon in der ungleichen Beziehung zu Verena genutzt hatte. Mit einigen Unterschieden: Erstens ging es ihm bei Mira nicht um Sex, sondern ausschließlich um Macht. Zweitens sprang er mit Mira noch deutlich härter um, als das mit Verena der Fall gewesen war. Diese beiden Abweichungen erkannte Verena. Fast wäre es ihr lieber gewesen, Bernd würde sie selbst auf diese Art erniedrigen. Zu sehen, wie ein so starker und selbstbewusster Mensch wie Mira in die Knie gezwungen wurde, war ihr unerträglich. Sie hatte nie gelernt, wie man gegen derartige Tyrannei vorgehen konnte, deswegen fühlte sie sich machtlos, etwas zu unternehmen.
Das war besonders tragisch, da es gerade für sie objektiv gesehen ein Leichtes gewesen wäre, Bernd in seine Schranken zu weisen. Denn der dritte Unterschied bestand darin, dass sich Bernd diesmal ansatzweise bewusst war, was er tat und sich unterschwellig unglaublich schämte. Statt die Konsequenz zu ziehen und sein Verhalten zu korrigieren, entwickelte er einen ausgeprägten Selbsthass. Er redete sich ein, dies alles sei zum Überleben notwendig. Hätte Verena den Mut gehabt, ihn zur Rede zu stellen, wäre sie eine moralische Instanz gewesen, der er überhaupt nichts entgegenzusetzen gehabt hätte.
Jedenfalls führte all das dazu, dass Bernd mit Mira vorausging und Alexander, Lisa und Verena sich weit zurückfallen ließen, um Bernds Launen zu entgehen und sich wenigstens ab und zu unbehelligt unterhalten zu können. Seit einiger Zeit schwiegen sie trotzdem. Verena hatte selbst nur wenig gesagt. Das anhaltende Schweigen bereitete ihr trotzdem zunehmendes Unbehagen. Sie meinte nämlich, den Grund dafür zu erahnen: Sie hatten sich häufig genug über Nebensächliches ausgetauscht und jetzt fürchteten sie sich, ihre eigentlichen Sorgen laut auszusprechen. Alexander vergewisserte sich, bevor er das Schweigen brach, dass Bernd zu weit voraus war, um mitzubekommen, in welche Richtung die folgende Unterhaltung ging. „Wir haben jetzt vor drei Tagen das letzte Mal eine Spur von dem Tafelberg gesehen. Ich glaube, hier unten können wir die Richtung nicht halten“, begann er endlich.
Damit war der Damm gebrochen und nicht einmal die eingeschüchterte Lisa und die von Selbstbewusstsein freie Verena konnten sich noch zurückhalten. Nicht öfter in die Baumwipfel zu klettern, um nach dem Weg zu schauen, war allein Bernds Entscheidung gewesen. Er wollte vermeiden, dass sie Zeit und Kraft vergeudeten. Bei den verschlungenen Wegen über Baumstämme, an Lianen herauf und herab und ständig damit beschäftigt, neuen Gefahren auszuweichen, war es ihnen aber nicht möglich gewesen, eine Richtung zu halten. Bernds Annahme, ein hoher Tafelberg sei von überall her sichtbar, hatte sich als verkehrt erwiesen, und es war klar, dass sie nun ziellos umherzogen.
„Dauernd bringt uns irgendwas fast um“, stöhnte Verena.
„Mira hat sich letzte Nacht heimlich eine Schlinge geknüpft. Ich habe stundenlang aufgepasst, dass sie sich nicht damit aufhängt. Dann ist sie doch schlafen gegangen. Und du wirst sowieso sterben, wenn du mit deinem Bein weiter marschieren musst“, flüsterte Lisa mit Blick auf Verena.
Schön und gut, wir wissen alle, dass unsere Situation verzweifelt ist und dass Bernd uns mit seiner Schinderei noch weiter hineinreitet in den Sumpf. Aber was können wir schon machen?, dachte Verena verzweifelt.
„Lasst uns Bernd sagen, dass wir nicht wollen, dass er weiter Anführer ist. Wir wollen gemeinsam entscheiden“, beantwortete Lisa Verenas unausgesprochene Frage mit ungewöhnlicher Entschlossenheit. Alex und Verena schwiegen. „Wir sind mindestens zu dritt und er ist allein, was kann er machen, wenn wir
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