Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist
und zupfte nervös an der Schnur, »außer um uns seinen Namen und sein Geburtsjahr zu sagen. Er schien recht stolz auf beides. ›Mein Name ist William James Henry, und ich wurde geboren im Jahre unseres Herrn Achtzehnhundert und sechsundsiebzig!‹, pflegte er jedem zu verkünden, der zuhören wollte – und jedem, der nicht wollte, nebenbei bemerkt. Aber was alles andere betraf – wo er herstammte, zu wem er gehörte, wie er in den Graben gekommen war, in dem man ihn entdeckt hatte –, Schweigen. Fortgeschrittene Demenz, sagten mir die Ärzte, und gewiss hatte ich keinen Grund, ihre Diagnose anzuzweifeln … bis wir die hier, eingewickelt in ein Handtuch, unter seinem Bett fanden.«
Ich nahm ihm den Packen aus der Hand. »Ein Tagebuch?«, fragte ich.
Er zuckte die Achseln. »Nur zu! Öffnen Sie das oberste und lesen Sie die erste Seite!«
Ich tat es. Die Schrift war außerordentlich sauber, wenn auch klein; die Handschrift von jemandem, der einen ordentlichen Schulunterricht genossen hatte, dessen Lehrplan auch Kalligraphiestunden beinhaltet hatte. Ich las die erste Seite, dann die nächste, dann die folgenden fünf. Ich schlug wahllos eine Seite auf. Las sie zweimal. Während ich las, konnte ich den Direktor atmen hören, ein schweres, schnaufendes Geräusch, wie von einem Pferd nach einem flotten Ritt.
»Und?«, fragte er.
»Ich verstehe, wieso Sie an mich gedacht haben«, antwortete ich.
»Ich muss sie selbstverständlich zurückhaben, wenn Sie damit fertig sind.«
»Selbstverständlich.«
»Das Gesetz verlangt von mir, sie aufzubewahren, für den unwahrscheinlichen Fall, dass ein Verwandter auftaucht und seine Sachen holen will. Wir haben eine Anzeige in der Zeitung aufgegeben und alle notwendigen Erkundigungen eingezogen, aber solche Dinge passieren nur allzu häufig, fürchte ich. Ein Mensch stirbt, und es gibt niemanden auf der Welt, der sein Eigentum abholt.«
»Traurig«, sagte ich. Ich öffnete einen anderen Band wahllos an einer Stelle.
»Ich habe sie nicht alle gelesen – ich habe einfach nicht die Zeit dazu –, aber ich bin außerordentlich gespannt darauf zu hören, was darin steht. Möglicherweise lassen sich Hinweise auf seine Vergangenheit finden – wer er war, wo er herkam, die Art von Sachen. Könnte uns helfen, einen Angehörigen ausfindig zu machen. Allerdings lässt mich das Wenige, was ich gelesen habe, vermuten, dass es sich hierbei nicht um ein Tagebuch, sondern um einen Roman handelt.«
Ich stimmte ihm zu, dass es beinah freie Erfindung sein musste, ausgehend von den Seiten, die ich gelesen hatte.
»Beinah?«, fragte er. Er schien verwirrt. »Nun, ich nehme an, nahezu alles ist möglich, auch wenn manche Dinge viel möglicher sind als andere!«
Ich nahm die Notizbücher mit nach Hause und legte sie auf meinen Schreibtisch, wo sie beinah sechs Monate lang ungelesen liegen blieben. Ich stand unter Termindruck bei einem anderen Buch und sah mich nicht genötigt, mich in etwas zu vertiefen, was ich für das unzusammenhängende Geschwafel eines dementen Neunzigjährigen hielt. Ein Anruf des Direktors im folgenden Winter spornte mich dazu an, die durchgescheuerte Schnur von dem Bündel zu lösen und die ersten außergewöhnlichen Seiten nochmals zu lesen, aber ansonsten machte ich wenig Fortschritte. Die Schrift war so klein, es waren so viele Seiten, auf Vorder- und Rückseite beschrieben, dass ich den ersten Band einfach nur überflog, wobei mir auffiel, dass das Tagebuch anscheinend über einen Zeitraum von Monaten, wenn nicht sogar Jahren verfasst worden war: Die Farbe der Tinte wechselte, zum Beispiel von Schwarz zu Blau und dann wieder zurück, als sei ein Füllfederhalter ausgetrocknet oder verloren gegangen.
Erst nach Anbruch des neuen Jahres las ich die ersten drei Bände als Ganzes in einem Zug durch, von der ersten bis zur letzten Seite; ihre Abschrift folgt hier, bearbeitet nur hinsichtlich der Rechtschreibung und einiger veralteter grammatikalischer Konstruktionen.
EINS
»Eine einzigartige Kuriosität«
Dies sind die Geheimnisse, die ich gehütet habe. Dies ist das Vertrauen, das ich niemals missbraucht habe.
Aber er ist jetzt tot und das seit mehr als vierzig Jahren, derjenige, der mir sein Vertrauen schenkte, derjenige, für den ich diese Geheimnisse gehütet habe.
Derjenige, der mich gerettet hat … und derjenige, der mich verdammt hat.
Ich kann mich nicht daran erinnern, was ich heute Morgen zum Frühstück hatte, aber ich erinnere mich mit
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