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Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Titel: Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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albtraumhafter Klarheit an jene Frühlingsnacht des Jahres 1888, als er mich unsanft aus dem Schlummer wachrüttelte, an seine ungekämmten Haare, seine Augen, groß und strahlend im Lampenlicht, an die aufgeregte Röte auf seinen fein geschnittenen Zügen – eine Röte, die mir, leider, gut vertraut geworden war.
    »Steh auf! Steh auf, Will Henry, und beeil dich!«, sagte er eindringlich. »Wir haben einen Besucher!«
    »Einen Besucher?«, murmelte ich als Antwort. »Wie spät ist es?«
    »Kurz nach eins. Zieh dich jetzt an und triff mich an der Hintertür! Spring in deine Kleider, Will Henry, und mach fix!«
    Er zog sich aus meiner kleinen Dachkammer zurück und nahm das Licht mit sich. Ich zog mich im Dunkeln an, hastete auf Strümpfen die Leiter hinunter und legte unterwegs das letzte Kleidungsstück an, einen weichen Filzhut, der eine Nummer zu klein für meinen zwölfjährigen Kopf war. Dieser kleine Hutwar alles, was mir von dem Leben geblieben war, das ich geführt hatte, bevor es sich ergeben hatte, dass ich bei ihm einzog, und deshalb war er mir kostbar.
    Er hatte die Gaslichter entlang der Diele im Obergeschoss angezündet, doch brannte im Erdgeschoss bloß ein einziges Licht, in der Küche im rückwärtigen Teil des alten Hauses, in dem nur wir beide wohnten, ohne auch nur ein Dienstmädchen, das hinter uns herräumte: Der Doktor war ein Privatier, der einer finsteren und gefährlichen Beschäftigung nachging, und konnte die neugierigen Augen und tratschenden Zungen der Dienerklasse nicht gebrauchen. Wenn der Staub und der Schmutz unerträglich wurden, ungefähr alle drei Monate oder so, pflegte er mir einen Eimer und einen Putzlumpen in die Hand zu drücken und mir zu sagen, ich solle »fix« machen, bevor die Dreckflut uns unter sich begrub.
    Ich folgte dem Licht in die Küche, wobei ich in meiner Beklommenheit die Schuhe völlig vergaß. Dies war nicht der erste nächtliche Besucher, seit es sich im Jahr davor ergeben hatte, dass ich bei dem Doktor einzog. Er bekam zahlreiche Besuche in den frühen Morgenstunden, mehr als ich mir ins Gedächtnis rufen wollte, und keiner davon war erfreulicher gesellschaftlicher Natur. Seine Beschäftigung war gefährlich und finster, wie ich schon sagte, und das waren, im Großen und Ganzen, auch seine Besucher.
    Derjenige, der sich in dieser Nacht einstellte, stand direkt draußen vor der Hintertür, eine schlaksige, skelettartige Gestalt, deren Schatten sich geisterhaft vom glänzenden Kopfsteinpflaster erhob. Sein Gesicht war unter der breiten Krempe seines Strohhuts verborgen, doch konnte ich seine schwieligen Fingerknöchel sehen, die aus seinen zerschlissenen Ärmeln hervorragten, und unter seiner zerlumpten Hose knorrige gelbe Fesseln, so groß wie Äpfel. Hinter dem alten Mann stampfte und schnaubte eine verbrauchte Schindmähre von einem Pferd, der der Dampf von den zitternden Flanken stieg. Hinter dem Pferd, kaum sichtbar im Nebel, stand die Karre mit ihrer grotesken Ladung, die in mehrere Lagen Sackleinen eingewickelt war.
    Als ich an die Tür kam, sprach der Doktor gerade leise mit dem alten Mann, eine tröstende Hand auf dessen Schulter, denn offensichtlich war unser Besucher beinahe verrückt vor panischem Schrecken. Er habe das Richtige getan, versicherte der Doktor ihm gerade. Er, der Doktor, nähme die Sache von jetzt an in die Hand. Alles würde gut werden. Die arme alte Seele nickte mit ihrem großen Kopf, der sich auf dem spindeldürren Hals auf und ab bewegte und mit seinem Strohdeckel noch viel größer wirkte.
    »’s ist ein Verbrechen! Ein verdammtes Verbrechen der Natur!«, stieß der Alte an einem Punkt aus. »Ich hätte es nicht mitnehmen sollen; ich hätte es wieder zudecken und der Gnade Gottes überlassen sollen!«
    »Ich beziehe keine Stellung zur Theologie, Erasmus«, sagte der Doktor. »Ich bin Wissenschaftler. Aber heißt es nicht, dass wir seine Werkzeuge sind? Wenn das der Fall ist, dann hat Gott Sie zu ihr geführt und folglich zu meiner Tür gelenkt.«
    »Dann werden Sie mich nicht melden?«, fragte der alte Mann mit einem schnellen Seitenblick auf den Doktor.
    »Ihr Geheimnis wird bei mir so sicher sein wie meins hoffentlich bei Ihnen. Ah, da ist Will Henry! Will Henry, wo sind deine Schuhe? Nein, nein«, sagte er, als ich mich umdrehte, um sie zu holen. »Du musst das Laboratorium bereit machen!«
    »Jawohl, Doktor«, antwortete ich pflichtschuldig und wandte mich ein zweites Mal zum Gehen.
    »Und setz einen Topf auf! Es wird

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