Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes
identisch war. Bartolomeo spielte energisch, Veronica sang schlecht, und Pellinore sah hingerissen zu. Am Ende des Lieds kam sie an unsern Tisch, schlug ihm zum Gruß mit der flachen Hand auf die frisch rasierte Wange, nannte ihn bastardo und idiota , und von der Bühne lachte Bartolomeo.
»Du hast nie auf mein Kabel geantwortet«, sagte der Doktor zu ihr.
»Wie viele meiner Briefe hast du nicht beantwortet?«, erwiderte sie scharf.
»Ich dachte, du könntest tot sein.«
»Ich fürchtete, du könntest am Leben sein.«
»Hab Geduld.«
Sie musste wider Willen lachen.
»Was willst du, Pellinore?«, fragte sie. »Welches Monster jagst du jetzt?«
Er raunte ihr etwas ins Ohr. Ich sah, wie sie unter der dick aufgetragenen Schminke errötete.
»Aber warum, Pellinore?«, fragte sie.
»Warum nicht?«, entgegnete er mit einem Lachen. »Solange ich hier bin – und solange du hier bist –, aber am wichtigsten, solange wir beide noch können!«
Der Monstrumologe zog sie vom Stuhl hoch und in seine Arme. Bartolomeo verstand das Einsatzzeichen und fing an, einen Walzer zu spielen. Die Stammgäste an den Tischen hoben die Gläser und beachteten sie nicht. Bartolomeo beobachtete sie auch nicht; er war in die Musik vertieft. Ich war der Einzige, derihnen zusah, wie sie im rauchigen gelben Licht tanzten, während draußen der Regen die Pflastersteine der Calle De Canonica küsste. Da war die Frau in Rot und der einsame Mann, der mit ihr tanzte, und der Junge, der ihnen zusah, allein.
Die Welt ist groß, und schnell ist vergessen, wie ganz klein wir sind. Wie die Sternenfäule verzehrt uns die Zeit. Er hatte gedacht, die Suche würde ihm Unsterblichkeit bringen, einen Triumph, der seinen kurzen Auftritt auf der Bühne überdauern würde. Er hatte sich geirrt. Pellinore Warthrop würde der Vergessenheit anheimfallen, seine noble Arbeit keine Anerkennung erfahren, sein Opfer von den Taten geringerer Männer überschattet werden. Er hätte sich in Verzweiflung ergehen können; er hätte auf den trockenen Knochen der Verbitterung und des Bedauerns herumkauen können.
Stattdessen kam er nach Venedig, und er tanzte.
Wir alle sind Jäger. Wir sind, wir alle, Monstrumologen. Und Pellinore Warthrop war der beste von uns. Denn er hatte den Mut aufgebracht, sich umzudrehen und dem schrecklichsten Monster von allen ins Gesicht zu sehen.
EPILOG
Am Morgen nachdem ich den zehnten Folianten zu Ende gelesen hatte, rief ich meinen Bekannten an, den Direktor der Einrichtung, in der Will Henry seine 131 Jahre auf der Erde abgeschlossen hatte.
»Hat ihm ein Finger an der linken Hand gefehlt?«, fragte ich und hielt den Atem an.
»Aber ja, tatsächlich, der Zeigefinger«, bestätigte der Doktor. »Haben Sie herausgefunden wieso?«
Ich wollte schon ja sagen, dann kam mir in den Sinn, dass diese Antwort ein bisschen irreführend war. Wie bei so vielem in den Tagebüchern gab es die Fakten, und dann gab es noch Will Henrys Erklärungen dafür – nicht unähnlich der Geschichte vom Magnificum , in der unwesentliche Hinweise auf ein Monster einem Monster zugeschrieben wurden, das nicht existierte, ein Phänomen, das angemessenerweise als Warthrops Torheit bezeichnet werden könnte.
»Er hat darüber geschrieben«, sagte ich. Ich erzählte ihm, dass ich gerade mit dem zehnten Folianten durch war.
»Noch irgendwelche Erwähnungen bekannter Namen?«, fragte er. Diesen Aspekt der Tagebücher fand er am faszinierendsten.
»Präsident McKinley; Arthur Conan Doyle, der Schöpfer von Sherlock Holmes; und Arthur Rimbaud.«
»Rimbaud? Nie davon gehört.«
»Er war ein französischer Dichter aus der Zeit. Gilt immer noch als ziemlich bedeutend. Ich habe irgendwo gelesen, dass Bob Dylan von seinem Werk beeinflusst wurde.«
»Hat Will Henry Bob Dylan auch gekannt?«
Ich lachte. »Na ja, ich habe die Tagebücher noch nicht zu Ende gelesen. Kann sein.«
»Noch etwas über Lilly?«
Da war etwas. Ich hatte den Artikel in der Auburner Zeitung gefunden, in dem über das Feuer im Jahr 1952 berichtet wurde, das Wills und Lillys Haus zerstört hatte. Ebenfalls hatte ich eine Kopie der Todesanzeige erhalten, die zwei Jahre vor dem Brand erschienen war. Lillian Bates Henry war in New York City geboren als Tochter von Nathaniel Bates, einem bekannten Anlagebankier, und Emily Bates, einer einflussreichen Gestalt in der Frauenwahlrechtsbewegung der Jahrhundertwende. Lillian war in den Vorständen mehrerer Wohltätigkeitsorganisationen tätig gewesen und
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