Zuendels Abgang
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Schöne Kindheit im Warenhaus. Abhanden gekommen das einzig Vertraute, untergetaucht in neonhellen Schluchten. Der Kleine, in Tränen aufgelöst und ohne Fassung wimmernd: Mama, Mama. - Wie immer viel Helferwille, Ersatzhände, vom Kinde abgeschüttelt, es rennt umher und schreit. Wird irgendwo hinter bunten Kulissen erhört: Da kommt sie, die Mama, das Kind ihr entgegen mit erhitztem Gesichtlein, verweint, doch erlöst, und sie läßt sich nieder vor ihm, breitet die Arme aus und schlägt zu, links rechts, links rechts, und zischt und schmäht.
Und Zündel? Zündel, ganz in der Nähe, schaut wie die andern zu, sieht jetzt, wie das Kind bleich wird und zu würgen beginnt. O blankes Parkett. Doch Mamas Hände haben sich schon zu einer Schale geformt, groß genug, den violetten Brei zu fassen. Da steht sie, blickt mutlos umher, die Handballen zusammengepreßt, und eine gequält schnuppernde Zeugenschaft dreht die Körper ab. Nun springt Zündel vor, bietet seine leere Plastiktragtasche an. In die hinein platscht stockend das Erbrochene.
Ein Verräter bin ich, ein Gaffer mit Faust im Sack. Windig. Gehandelt hab ich zwar, stimmt, ich regte mich, zu spät und falsch. Ein Nothelfer dieser Mama: Getilgt seien die Spuren ihrer Tat, denn sie stinken zum Himmel. Gott, das hätte jeder getan, das mit der Plastiktüte, ein Reflex! Verdient ein Spontanakt Luchsaugen, du galanter Assistent? Gewiß, immer. Späh doch: Wir schlachten nicht, wir reichen dem Metzger das Handtuch, nachher. Kein Reflex, solange das Beil geschwungen wird. Spitz die Ohren: Was klickt ein, was schnappt ein? Nichts. Warum? Man könnte sich verletzen, heilige Einfalt. Eben, dachte Zündel, kehrte sich auf den Bauch, schämte sich, schlief ein.
Erwachte nach Mitternacht. Schluchzen im Nebenzimmer. Dann eine ruhige Männerstimme. Ende des Schluchzens. Statt dessen: Der Schrank, der neben Zündels Bett an der Wand steht, beginnt zu vibrieren. Zündel denkt: Entweder-Oder. Lauscht widerwillig. - Si si, amore, dai dai dai! trällert die Frau, dann wird es still im Hotel.
Zündel aber war jetzt wach, machte Licht, stand auf und besah sein Gesicht im winzigen Spiegel über dem Lavabo. Ich bin eitel und gefalle mir trotzdem nicht, dachte er. Ich will auch in diesem Raum eine Spur hinterlassen, ein Zeichen setzen, ein verborgenes. Er hängte ein Bild der Jungfrau Maria ab, kehrte es um und schrieb auf die Rückseite: Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedengestelltes Schwein. J. S. Mill 1861.
Das war in Ancona, Italien.
Zwanzig Minuten vor Abfahrt der Fähre von Ancona nach Patras, Griechenland, verlor Zündel seinen Stiftzahn (Erster Schneidezahn oder Schaufel). Er hatte sich in der engen Viererkabine bereits installiert, hatte aus Verlegenheit eben die beiden Männer, die bei seinem Eintritt auf einer der unteren Pritschen saßen, gefragt, woher sie kämen (Where do you come from?), als, noch bevor sie hatten antworten können, sein Zahn aus ihm herausfuhr und zu Boden schlug. Bestürzung, Entsetzen und Scham überfluteten Zündel. - From Bümpliz near Berne in Switzerland, sagten die beiden gleichzeitig, als läge ihm jetzt - angesichts dieser Heimsuchung - noch das geringste an ihrer gründlichen Auskunft. Zwar nickte er anerkennend, obwohl selber nicht etwa Japaner, sondern ebenfalls Schweizer, dachte aber nur: Mit einer Zahnlücke reise ich nicht.
Wenig später schob sich die Fähre mit arroganter Gemächlichkeit ins braune Meer. Zündel stand am Ufer. Er hatte dem zuständigen Schiffspersonal in glaubwürdiger Panik erklärt, er sei kein Passagier, sondern habe nur seine Braut in die Kabine begleitet und dort das Tuten überhört, worauf ein paar Matrosen den Steg eigens für ihn nochmals hatten ausfahren lassen.
So weltfremd bin ich gar nicht. Ich kann lügen. Ich bin tauglich.
Zündel stand am Ufer und dachte: Vielleicht nimmt mein Dasein jetzt einen andern Lauf? Vielleicht wär ich in Griechenland ertrunken? Unter einen Bus gekommen? Vielleicht hätte ich aber auch die Frau meines Lebens getroffen, auf dem Schiff oder im Land der Griechen? Meine Ehe wäre - Gott bewahre - gesprengt worden, eine Existenzwende hätte sich angebahnt und aufgedrängt. Nun aber bleibt alles beim alten.
Fast besitzergreifend zwängt sich Zündels Zungenspitze in die noch fremde, fleischigweiche Schneise. Merkwürdig, wie ein plötzlich fehlender Schneidezahn den Horizont verengt. Und wie er einem Menschen das Gefühl geben kann,
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