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Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Titel: Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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    Bei Einbruch der Dunkelheit gingen wir hinunter ans Ufer. Die Dagmar war zwischen dem nassen Sand und dem Horizont vor Anker gegangen, und zwischen uns und der Dagmar fuhr ein Dingi auf der hereinkommenden Strömung, um uns nach Hause zu bringen.
    »Awaale?«, sagte ich.
    »Er kommt vielleicht nicht, Will«, sagte der Doktor. »Kearns hat vielleicht recht gehabt.«
    Ich dachte an einen Mann, der wie ein Koloss in einer gefallenen Welt stand und ein Kind in den Armen wiegte und mit donnernder Stimme sagte: Barmherzigkeit zu zeigen ist nicht naiv. Sich wider das Ende der Hoffnung zu behaupten ist nicht Dummheit oder Wahnsinn. Es ist fundamental menschlich.
    »Nein«, sagte ich. » Sie hatten recht, Doktor.«
    Ich zeigte nach Osten, wo ein Mann barfuß in der krachenden Brandung ging, ein Riese von einem Mann, dessen dunkle Haut in den letzten Strahlen der sterbenden Sonne leuchtete. Selbst aus der Entfernung konnte ich sein breites Lächeln sehen. Ich wusste, was dieses Lächeln bedeutete. Und er, der blutdürstige Pirat, dessen Herz nicht länger belastet war, hob die Hand und winkte mit kindlicher Freude.
    * * *
    Von Sokotra nach Aden, dann von Aden nach Port Said, wo Fadil sein Versprechen hielt und uns ein Festmahl von fasieekh und kofta bot und mich seinen Zwillingstöchtern, Astarte und Dendera, vorstellte. Er sagte ihnen, sie könnten es schlechter treffen als Ophois zu heiraten, das Mündel Mihos’, Hüter des Horizonts. Möglicherweise habe ich Port Said verlassen und war mit einer von ihnen verlobt; ich bin mir nicht sicher.
    Bevor wir den Dampfer nach Brindisi bestiegen, schickte Warthrop ein Kabel nach New York:
    DAS MAGNIFICUM IST UNSER.
    »›Das Magnificum ist unser‹?«, echote ich. Ich befürchtete, mein Herr hätte seinen Verstand fahren lassen.
    »Na ja, den Russen gehört es auf jeden Fall nicht!«, meinte er mit einem Lächeln. »Wir haben der schrecklichen Bestie ›die Zähne gezogen‹.« Er tätschelte seine Instrumententasche. »Ich hoffe, du kannst die Ironie davon würdigen, Will Henry. Ein gesunder Sinn fürs Ironische ist der beste Weg, sich seine geistige Gesundheit zu bewahren in einer Welt, der sie oftverloren gegangen ist; ich empfehle ihn wärmstens. Aber man wird uns keinen heldenhaften Empfang bereiten, es wird keine Auszeichnungen oder Paraden zu unseren Ehren geben. Unser Sieg über Typhoeus wird weder verkündet noch besungen werden. Eine Niederlage für Pellinore Warthrop. Ein Triumph für die Monstrumologie.« Dann korrigierte er sich. »Nein. Für die Menschheit.«
    * * *
    Übers Mittelmeer nach Brindisi, wo wir den Zug nach Venedig bestiegen. Der Doktor schickte mich auf einen besonderen Botengang, einen, der sich als eine ziemliche Herausforderung für einen dreizehnjährigen Jungen herausstellte. »Gib dich nicht mit den Erste-Klasse-Passagieren ab. Geh geradewegs in die dritte Klasse. Geld hat es so an sich, die Milch der Menschenliebe gerinnen zu lassen.« Schließlich gelang es mir, den gesuchten Gegenstand von einem Inder, der aus Bombay ausgewandert war, zu borgen.
    »Normalerweise gebe ich mich ja nicht dem Aberglauben hin, aber vielleicht bringt es mir ja Glück«, gestand Warthrop, als er sich hinsetzte. Er lockerte seinen Kragen und hob das Kinn. Er beäugte die Rasierklinge, die in meiner Hand glänzte. »Ruhig jetzt! Wenn du mich schneidest, werde ich sehr ärgerlich und schicke dich ohne Abendessen ins Bett!«
    Er begutachtete das Werk meiner Hände im Spiegel und befand es für ordentlich ausgeführt.
    »Ob ich mir in Venedig einen Barbier suchen sollte?«, überlegte er laut, während er mit den Fingern durch seine schulterlangen Locken fuhr. Dann zuckte er die Schultern. »Ich sollte es nicht übertreiben, was?«
    Es war schon deutlich nach neun Uhr abends, als wir in Venedig ankamen. Das dunkle Wasser der Kanäle glitzerte wie Diamanthalsbänder, und die Luft war feucht von nahendem Regen. Ich erkannte dieselben Leute in dem Klub wieder, die ichschon Wochen zuvor gesehen hatte, als wären sie nie gegangen, als stünde die Zeit still in Venedig.
    Vielleicht tat sie das ja. Der Doktor bestellte sich ein Getränk bei demselben bassetgesichtigen Kellner; Bartolomeo kam heraus und setzte sich ans Klavier und trug dieselbe schwarze Weste und dasselbe weiße, schweißgetränkte Hemd; die Tür neben der Bühne öffnete sich, und hervor kam Veronica Soranzo in einem verblassten roten Abendkleid, das mit demjenigen, welches sie meinem Herrn gegeben hatte,

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