Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)
sollen, denkt Charlo. Sie bezaubern, denn das kann ich, wenn ich will. Und dann würde sie mich bald wie alle anderen auch vergessen.
»Dauert es lange, bis sie ins Wasser kommen?« fragt sie.
Jetzt klingt ihre Stimme frischer, offener.
Er schweigt und denkt nach. Werden sie überhaupt ins Wasser kommen? Das weiß er nicht. Es ist kurz vor acht Uhr abends, und er weiß, daß der Laden in wenigen Minuten schließen wird. Er muß noch eine Weile warten, ehe er zur Tat schreitet. Bis der Verkehr in den Straßen zum Erliegen kommt. Bis die Leute in die Häuser verschwunden sind und er ungesehen durch die Stadt wandern kann.
»In ein oder zwei Stunden«, sagt er und sieht zu, wie sie die Stengel in feuchtes Papier wickelt. Dann schlägt sie sie in Zellophan ein, es knistert unheilverkündend. Charlo hat sich wieder abgewandt. Als er sich umdreht, sieht er, daß sie den Strauß in eine Art Tüte mit Henkeln schiebt. Auf der Tüte steht deutlich sichtbar in Rot und Blau die Aufschrift »Tinas Blumenladen«. Er zieht seine Brieftasche hervor, um zu bezahlen, seine Finger zittern ein wenig. Die junge Frau weicht seinen Blicken aus und starrt statt dessen die Brieftasche an, die ist zerfetzt und braun. Sie sieht mit jungen, wachen Augen, daß der Reißverschluß defekt ist, er ist abgerissen und das Leder ist verschlissen. Sie sieht den kleinen rotweißen Aufkleber, der ihn als Blutspender ausweist. Er bezahlt, steckt die Brieftasche weg und schenkt ihr ein kleines Lächeln. Sie lächelt zurück, sie sieht, daß die Ecke seines rechten Schneidezahns abgebrochen ist, er hat es nicht geschafft, es reparieren zu lassen. Es läßt sein Lächeln durchaus charmant wirken. Charlo schaut kurz zu der älteren Frau hinüber, die noch wartet. Der Schnee auf ihren Schultern ist geschmolzen, die feuchten Stellen funkeln im Licht. Sie schaut auf die Uhr, hat wenig Zeit, jetzt tritt sie vor den Tresen. Ihre Nase ist spitz und rot in ihrem langen, mageren Gesicht. Tiefe Furchen in den Mundwinkeln, blaue Schatten unter den Augen. Er weiß, daß er sich für immer an dieses Gesicht erinnern wird. Endlich kann er gehen. Die Tür fällt ins Schloß, die Klingel bimmelt. Die Luft draußen kommt ihm seltsam frisch vor. Er geht mit seiner Tüte durch die Straßen. Ist unter den Laternen für einige Sekunden zu sehen, wird von der Dunkelheit verschluckt und dann wieder sichtbar. Die Tüte baumelt an seiner Hand. Soviel Fürsorge hat sie in diesen Strauß gesteckt, soviel Wissen und Erfahrung, und alles ganz ohne Sinn. Die Blumen sind nur eine Eintrittskarte. Um ins Haus zu gelangen.
Und dann weiter in die Küche von Harriet Krohn.
SIE WOHNT IN Hamsund in der Fredboes gate.
Es ist siebzehn Kilometer entfernt. Harriets Haus gehört zu einer unter Denkmalschutz gestellten Ansammlung von Holzbauten aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, es liegt in einer sehr stillen Straße. Niedrige, hübsche Holzhäuser mit schön gerahmten Fenstern. Die meisten, die hier wohnen, sind ältere Menschen, die meisten können über ihre Finanzlage nicht klagen. Im Sommer sind die Fassaden geschmückt mit übervollen Blumenkästen, voller Pelargonien, Kresse und Margeriten. Das Haus liegt einige Minuten vom Bahnhof entfernt, es sind insgesamt zwölf Häuser, auf jeder Straßenseite sechs. Harriet wohnt in Nummer 4. Das Haus ist grün wie Flechten auf den Felsen, die Fensterrahmen und Windbretter am Dach sind gelb. Charlo nähert sich Hamsund. Noch immer fällt dichter Schneeregen, er konzentriert sich gewaltig, um das Auto auf der Straße zu halten, er will nicht im Straßengraben landen, nicht an diesem Abend. Neben ihm auf dem Sitz liegt ein alter Husqvarna-Revolver, er ist nicht geladen. Er soll nur meine Absicht betonen, denkt er, bestimmt macht sie mit, sie wird es nicht wagen, sich zu wehren, sie ist alt. Er hat auch ein Paar schwarze Lederhandschuhe und einen Beutel für die Wertgegenstände, die er vielleicht finden wird. Der Beutel liegt zusammengerollt in seiner Tasche. Charlo fährt über die Europastraße 134, am Fluß entlang, der fließt zu seiner Linken, schwarz und wild. Er weiß, daß es im Fluß von Lachsen nur so wimmelt, aber Angeln hat ihn nie interessiert. Als er daran denkt, erinnert er sich an seine Kindheit. Sein Vater, der immer angeln wollte, während er selbst dabeisaß, sich langweilte und die Angelrute gleichgültig über das Wasser wippen ließ. Angeln war zu langsam für ihn, zu öde. Er hat es nie laut gesagt, das hätte seinen
Weitere Kostenlose Bücher